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WO DER OSTEN DEN WESTEN TRIFFT

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Von den Bengalen heißt es, daß sie dem leidenschaftlichsten, jähzornigsten, aber auch begabtesten Volksstamm Indiens angehören. Hitzige Debatten steigern sich hier schnell zu Handgreiflichkeiten, und neben New Delhi wird am häufigsten Calcutta mit Straßenschlachten, Studentenkrawallen und Demonstrationen jeder Art in Zusammenhang gebracht. Aber ebenso haben hier die großen religiösen Bewegungen ihren Anfang genommen, Bengalen wird als Zentrum der schönen Künste bezeichnet und Bengalisch als die klangvollste und differenzierteste Sprache des Landes.

Die moderne bengalische Literatur bietet insofern ein Interessantes Phänomen, da sie als genauer Gradmesser der Situation gewertet werden kann, in der sich die gegenwärtige indische Intelligenz befindet. Die ungeheuren inneren und äußeren Schwierigkeiten, mit denen dieses Land zu kämpfen hat, werden hier deutlich. Die jungen Künstler stehen Problemen besonderer Art gegenüber, die trotzdem für den Gesamtzustand des Landes symptomatisch sind.

Die letzten 200 bis 300 Jahre, in denen eine große Kultur ln Decadence verfiel, haben an kulturellen Werten und entsprechenden Vorbildern wenig zu bieten, die Gegenwart ist ein Chaos, die Zukunft ungewiß. Der Westen mit seiner rationalen Denkweise ist dem Asiaten fremd. Er weiß trotzdem, daß sein Weg nur über Europa führt. Und Europa ist sich der Gefahr, die darin enthalten liegt, bewußt. Die Dritte Welt zeigt sich in ihren Konturen.

In Bengalen wurde zuallererst westliches Gedankengut übernommen und absorbiert. Die zwei großen Erneuerer und Reformatoren des 19. Jahrhunderts, denen es gelang, westliches und östliches Gedankengut zu einer Einheit zu verschmelzen, Raja Rammonhu Roy und Rabindranath Tagore, stammten aus Bengalen. Und hier auch, in dieser ungeheuer schmutzigen und ungeheuer lebendigen Stadt Calcutta, an deren Universität ein hellerer und wacherer Verstand zu herrschen scheint als im gesamten übrigen Indien, und deren Slums geradezu gigantische Ausmaße erreichen, scheint sich etwas Neues, Eigenständiges anzubahnen. In der modernen bengalischen Lyrik ist aus der Symbiose Ost—West ein oft sehr reizvolles Ergebnis entstanden.

Diese junge indische Avantgarde steht in ihrem Bemühen ziemlich isoliert einem fast völlig verständnislosen Publikum gegenüber. Etwa 70 bis 80 Prozent der indischen Bevölkerung bestehen heute noch aus Analphabeten. Die übrigen 20 bis 30 Prozent haben — sofern sie der gebildeten Schicht angehören — in den seltensten Fällen den Sprung gewagt, der aus der orthodoxen, auf Tradition und Sippengeist beruhenden Lebensweise in die kühlere Verstandeswelt der nördlichen Breiten führt. Eine Situation, die in ihrer oft geradezu grotesken Erscheinungsform am besten durch ein Beispiel deutlich wird: Als im Jänner dieses Jahres in Popna eine Ausstellung des bengalischen Malers und Lyrikers Banipro- sonno eröffnet wurde, zu der unter anderen Professoren und Studenten der Universität Poona geladen waren, geriet der 38jährige Künstler ähgesichts der — wie ihm schien — völlig Unpassenden Fragen und Bemerkungen des Auditoriums derart außer sich, daß er schließlich mit dem Ruf „I am serious that ist quite serious“ seine Erklärungsbemühungeri abschloß (Baniprosonno ist in seiner Malerei abstrakt, in seiner Lyrik Impressionist).

Der Beginn der modernen Literatur Bengalens wird allgemein in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts gelegt. Damals schloß sich eine Gruppe junger Dichter zusammen und veröffentlichte Beiträge in der von Gokulchandra Nag und Dineshranjan im Jahre 1923 gegründeten Literaturzeitschrift „Kallol“ (Woge), die sich vor allem gegen Tagore und seine dichterische Auffassung richtete. Rabindranath Tagore, 1913 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, gilt auch heute noch im deutschsprachigen Raum als einsame Größe inmitten von geistigem Brachland. Eine ähnliche Situation herrschte in Indien zu Anfang dieses Jahrhunderts. Sein ungeheurer Einfluß verhinderte das Aufkommen neuer Ideen. So jedenfalls empfanden es die jungen Dichter, welche in „Kallol“ veröffentlichten und mit dem feurigen Ausruf einer ihrer Wortführer, Mohitlal Mazumdar: „O Herr aller Dichter, wie lange noch willst Du die Menschheit mit Drogen betäuben“, Tagore offen den Kampf ansagten.

Tagores Dichtung, welche noch in den traditionellen Anschauungen und Idealen wurzelte, konnte der jungen Generation nicht mehr Sprachrohr sein. In der Verherrlichung des Landlebens, im Glauben an das Gute und Schöne und eine allumfassende Liebe fanden sie sich nicht wieder. Es ist eine Entwicklung ähnlich jener in Europa. Doch ist die industrielle Revolution mit ihren gigantischen Umwälzungen in Asien noch keineswegs abgeschlossen. Und was sich in Europa im Laufe von Jahrhunderten völlig organisch entwickelte, findet hier im Zeitraffertempo statt. Die wachsende Urbanisierung des Landes (etwa 90 Prozent der indischen Bevölkerung leben heute noch in Dörfern), die Entstehung der Slums und des Proletariats schufen eine neue geistige Situation, die in der Dichtung — und dabei vor allem in der Lyrik — ihren Niederschlag fand. Der Reiz des Häßlichen, die Schönheit der Städte, die eigenartige Faszination der Künstlichkeit — Merkmale, wie sie sich bereits bei Baudelaire im Frankreich des 19. Jahrhunderts finden — werden hier, im asiatischen Raum, fast ein Jahrhundert später sichtbar. Dieses — plötzliche — Heraustreten aus der dörflichen Gemeinschaft und damit verbunden eine Anpassung an das Leben in den Städten bewirkte einen inneren Bruch, der noch keinesfalls überwunden ist. Daneben sind es die Auswirkungen der beiden Weltkriege und die veränderten Gegebenheiten im Nachkriegseuropa, deren Folgen auch in Asien spürbar sind. Melancholie, Todesbewußtsein, Pessimismus und Ironie sind demnach die Merkmale, welche in der modernen bengalischen Lyrik bestimmend werden. Hinzu kommen Sex, Glaubenslosig- keit und philosophische Geistesströmungen des Westens. Ein aufkeimendes Freiheitsbewußtsein fand seinen Ausdruck im politischen Engagement.

Die im Jahre 1920 von Mahatma Gandhi gegründete Non-cooperation-Bewegung besaß viele Anhänger unter den jungen Intellektuellen. Der Held dieser neuen nationalen Bewegung war Nazi Nazrul Islam, der sich zusammen mit

Mazumdar der Kallol-Gruppe anschloß und dessen Gedicht „Der Rebell“ beinahe zur Nationalhymne des bengalischen Volkes wurde. Seine leidenschaftliche, aufpeitschende Sprache drückte genau das aus, was tausende seiner Zeitgenossen fühlten:

Ich bin unbändig, wild und grausam ...

ich zertrete alle Ketten, jede Ordnung, jedes Gesetz,

ich kenne kein Recht...

Daneben brachte sie völlig neue und revolutionäre Töne in die blumige, in Lieblichkeit schwelgende und oft pathetisch anmutende Sprache seiner Generation.

Ironische und zum Zynismus neigende Gedichte veröffentlichte Archintya Kumar Sengupta in Kallol, dessen zwei Romane von der Regierung verboten wurden. Die Lyrik von Jatindranath Sengupta spricht von Chaos, Unglauben, Illusion und dem Zerfall aller Werte. Der begabteste Dichter der Kallol-Gruppe aber ist wohl Jivananda Das (1899 bis 1954), der wegen seiner revolutionären Schreibweise seinen Posten als Englischlehrer an einem College in Calcutta verlor. Beeinflußt von Ezra Pound und T. S. Eliot wird er in den indischen Anthologien als „moderner Hamlet“1 bezeichnet. Worte wie „Leben bedeutet Vergänglichkeit, alles ist Vergänglichkeit“ sind für ihn bezeichnend. Seine Sprache ist poetisch, sie malt mit Bildern und besitzt eine eigenartige Suggestivität:

O Drache, Drache mit den goldenen Flügeln, an diesem Mittag nasser Wolken klage nicht wenn du über den Dhansirifluß fliegst...

Oder:

Die Dunkelheit des Aprils bringt die Erzählung von der anderen Seite des Meeres,

die traurigen Konturen von wundervollen Toren und Domen,

den Geruch — der verlorenen Zitronen, die farblosen Manuskripte über viele Hirsch- und Löwenhäute... plötzliche Ahnung, zeitlose Stille und Erstaunen.

Im Jahre 1927 wurde dann eine zweite Zeitschrift: „Kali Kaläm“ (Tinte — Feder), herausgegeben, welche den neuen Anschauungen zum Durchbruch verhelfen sollte. Einer ihrer Mitarbeiter ist Premendra Mitra (1904), der sich selbst als Dichter des Volkes bezeichnet:

„Ich bin der Dichter der Zimmerleute, der Kupferstecher, der Taglöhner, ich bin der Dichter der Armen.“

Nicht mehr der Held, der junge Gott oder eine mythologische Schönheit sind nun Mittelpunkt des Geschehens, sondern der einfache Mann der Straße. Realismus tritt an die Stelle von Symbolismus. Gleichzeitig damit findet die

Umgangssprache (Calitbhasa) als neues Element Eingang in die Dichtung, welche bis zu dieser Zeit vor allem in der Hoch- und Schriftsprache (Sadhubhasa) geschrieben worden war. Daneben aber vertritt Premendra Mitra auch einen ausgeprägten Individualismus. In seinem Gedicht „Kaiser“ heißt es: „Die Gemeinschaft bringt Friede und Glück, aber Selbstbeschränkung tut not.“ Diese Ansicht ist um so bemerkenswerter, als dem Inder, hineingeboren in die Sippengemeinschaft und getragen vom Sippengeist, ein Individualismus, wie ihn der Westen vertritt, ziemlich unverständlich bleibt. Eine daraus resultierende Ichlosigkeit des Asiaten steht damit in krassem Gegensatz zur ausgeprägten Ichhaftigkeit des Europäers und Amerikaners.

Die dritte Zeitschrift progressistischer Literatur, welche in den zwanziger Jahren gegründet wurde, war die von Ajit Datta und Buddhadev Basu herausgegebene Zeitschrift „Pragati“ (Fortschritt).

Buddhadev Basu (1908) wird allgemein als enfant terrible der dreißiger Jahre bezeichnet. Trotz einer ausgeprägt ablehnenden Haltung Tagore gegenüber bemüht er sich um eine vermittelnde Stellung zwischen altindischer Tradition und neuwestlichem Gedankengut. Beeinflußt von A. Huxley, D. H. Lawrence und Siegmund Freud gilt er als der Entdek- ker der körperlichen Liebe in der indischen Literatur, die bisher im rein Platonischen verharrte. Erotische Schilderungen, wie sie sich beispielsweise in folgenden Zeilen äußern:

„Deine Stimme, zerflossene Worte, das Licht deiner Augen, runde Lippen,

ein wenig sichtbare Zunge — rot, kleine weiße Zähne...“

bedeuteten eine Revolution. Ebenso die Worte: „Eine Liebe, die rein, nackt und körperlich ist, kennt keinen Tod.“

Hier äußert sich der Gegensatz zu Tagore, welcher immer nur die platonische Liebe beschrieb. Weitere Unterschiede ergeben sich aus dem Verhältnis Stadt—Land. Tagore verherrlicht die Schönheit des Dorfes, für Basu ist die Stadt alleiniger Wirkungskreis:

„Meine Arbeit, meine Stellung, mein Leben, alles habe ich bekommen,

In dir, Calcutta.“

Bishnu De (1909) veröffentlichte ebenfalls seine ersten Gedichte in „Pragati“. Beeinflußt von Eliot und Pound und ein Anhänger des Marxismus sprengt er mit neuen Wortschöpfungen und überraschenden Wortkombinationen alle überlieferten Anschauungen.

Nach „Pragati“ gab Bose eine Zeitschrift „Kavita“ heraus. Beiträge lieferten unter anderem Samar Sen, dessen ausgeprägte Linksorientiertheit nur noch von Sukanta Bhattacharya übertroffen wird. Die Gedichte Amiya Chakrabortis zeigen etwas von der eigenartigen zwiespältigen Haltung des Verfassers: pochende Maschinen, Regen auf Asphalt, Licht in breiten Straßen wechseln mit Landschaftsschilderungen, die ein völlig ungebrochenes Verhältnis zur Natur zeigen.

In den dreißiger Jahren begannen sich erneut Änderungen abzuzeichnen. Vor allem die Philosophie Heideggers und Sartres fand in der jungen Intelligenz Bengalens eine entsprechende Resonanz. Die Zeitschrift „Paricay“ (Bekanntschaft), welche drei Jahre nach „Pragati“', also 1931 unter Sudhindranath Datta (1901 bis 1960) gegründet wurde, trug diesen neuen Strömungen Rechnung. Datta, geschult an Mailarme, Rimbaud, Proust, Rilke und Eliot wollte in dieser Zeitschrift den indischen Leser vor allem mit der europäischen Literatur bekannt machen. In seinem Suchen nach neuen Ausdrucksformen empfindet er sich als Einzelgänger: „Die Freunde deiner Jugend, die Gefährten der Vergangenheit, sind tot, du bist hilflos und allein.“

Gegenwart ist ihm trauriges Verlöschen, Zukunft gleichbedeutend mit Chaos:

„Der fahle Schatten zu deinen Füßen starb, kein Wunder,

bricht den Horizont des Heut0.“

Auch politisches Geschehen spiegelt sich in seinen Gedichten:

„ ... Spanien ist tot,

mattes China,

kopfloses Frankreich,

ich weiß nicht einmal, ob es noch lebt.“

Die Generation nach dem zweiten Weltkrieg unterscheidet sich wiederum von jener der Zwischenkriegszeit. Es sind nun vor allem die politischen und sozialen Probleme, welche sich nach Erlangung der Unabhängigkeit ergaben, die von den Dichtern aufgegriffen werden.

Gleichzeitig damit findet die Umgangssprache immer häufiger Eingang in die Literatur. Die Ausbreitung kommunistischer Ideen ergibt einen inneren Zusammenhang. Führer dieser Bewegung wird Sukanta Bhattacharya. Er tendiert zu einem reinen Materialismus, wenn er sagt: „Nicht das geistige Bewußtsein bestimmt den Menschen in seiner Existenz, sondern seine soziale Position. ' Eine Zigarette wird ihm zum Symbol der Ausbeutung, und „der Mond wird zu hellem Brot“.

Neben den sozialen Problemen ist es weiterhin Sex, die morbide Schönheit der Stadt und eine gewisse Art des Nihilismus, welche die Dichter beschäftigt. Samar Sen, bereits erwähnter Mitarbeiter von „Kavita“, hebt ziemlich unbekümmert eine mythologische Schöne von ihrem Pfauenthron, wenn er dichtet:

„Wirst du kommen in unser Blut des Mittelstandes,

....du müde Urbaschi,

wie die fruchtbaren Frauen zur Tschittorondschon-Klinik kommen,

mit trüben Gesichtern.“

Und Arun Kumar Sarkar meint: „Da ist nichts, nichts, nichts. Kein Körper und kein Geist.“

Auch die Auswirkungen des Journalismus, der Reklame und des Films sind jetzt deutlicher zu spüren. Versformen und Rhythmik werden abgewandelt. Die reimlose Dichtung dominiert. Ironie und Satire zeigt sich in Ajit Krishna Boses „Gedicht eines Irrenhauses“. Hingegen Birendranath Chat- terjee für eine Wiederbelebung der Volksdichtung eintritt.

Die Angriffe auf Tagore jedoch, welche sich anfänglich vor allem gegen seine überragende und jedwedes andersgeartete Bemühen erstickende Monopolstellung richtete, wurden nach Gewinnung eines entsprechenden Abstandes schwächer. Der ursprünglich angestrebte Realismus wich einem „Neuen Realismus“, der als „Neo-Romantizismus“ bezeichnet wird.

Die Begegnung Ost—West trug in diesem Falle Früchte, wenn auch oft fragwürdige.

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