Felix Philipp Ingold reißt in seinen Gedichten kunstvoll die Verszeilen auf und lädt die Leser zum Stehenbleiben ein.
Der Schweizer Autor und Übersetzer Felix Philipp Ingold hat in letzter Zeit hauptsächlich Lyrik geschrieben, obgleich sein bisheriges Werk auch poetologische Schriften oder Prosa umfasst. Die Vielfalt seines literarischen Schaffens ist beachtlich und interessant. Denn beim Lesen seiner Gedichte wird bald offenkundig, dass seine Lyrik nicht nach leicht konsumierbaren Mustern funktioniert, sondern sich avantgardistischer Codes bedient, die Ingold facettenreich variiert.
Wenn man also seinen jüngsten Lyrikband im schlichten, knallgelben Umschlag zur Hand nimmt, muss man sich auf eine Häppchenlektüre einstellen. Ingolds Gedichte verlangen ein Stehenbleiben, damit die Verse aufgehen und ruhen können - das geschieht zu Gunsten von Nachhaltigkeit. In diesem Sinne bietet bereits der Titel seines neuen Bandes "Tagesform. Gedichte auf Zeit" die erste thematische Seilschaft. Denn Zeit und Raum - der Blick ist dabei zu kosmischen Parametern hin geöffnet -, aber auch Philosophisches spielen in Ingolds Lyrik eine wichtige Rolle. Das Auftaktgedicht "Tagesnorm" zeigt in einem Wortspiel die Klarheit zwischen "Verrätern und Rettern" und in der tänzerischen Wiederkehr einzelner Verse mündet alles schließlich in "jenes alte Wahre", das Erkenntnis in sich birgt: "Wo die Stille steht / statt lautet."
In der "Tagesform" wird das lyrische Ich als "Grenzer" oder "Dazwischer" fassbar, im nächsten Gedicht verbirgt es sich nur mehr zaghaft und indirekt im Titel "Ich … aros", was gleichzeitig auch als Buchstabenspiel mit dem Namen der mythischen Figur Ikaros gelesen werden kann. Hier wird das Scheitern zum Thema:
Der gute Grund ist das was
nie nicht beginnt. Oder dort
wo der Weg knirschend Halt
macht. Vom Sturz getragen ist
das All endlich. Und wen die Kraft gewinnt der hat den Flug
gewonnen. Die Flucht nach unten folgt dem Spinner auf dem Fuss.
In vielen seiner Texte ist die Rede von der Zeit, von Kosmischem, von Leben und Tod, von Mythischem oder Biblischem. Und manches kommt ganz unvermutet als thematisches Nebengleis daher, wie etwa der Blick auf "Lolita", die "als tolles Lied in vielen Armen loht" und "verglüht … so blond und so kühl wie die Wüste", letztendlich doch nicht geboren zum Erwachsenwerden. In einem anderen Gedicht macht Ingold deutlich, dass Gott sich im Detail verbirgt. Daraus folgt die Frage, "ob in den immer / kleiner werdenden / Objekten // die Vernunft / [stockt] / und nächtigt". Der Enttäuschung bleibt das Schweigen, denn alles bleibt gleich wie früher. Fazit: "Man hat nie / genug den Übergang geübt." Ingold hat auch die Hand zur poetischen Reflexion. Wie könnte schließlich Trauer schöner ausgedrückt werden als so:
Trauern heisst ganz
Ohr sein für
die nie gehörte Dauer
Für den Ton
der fehlt wo - immer
jetzt - das Ende
lautet. Zeitversetzt verblühn
die Farben und
Vokale die den einen Namen
meinen. Also unerhört
die Mitte. Und
keine Blösse ahnungslos.
In Ingolds Gedichten steckt eine Tiefe der Poesie; sprachliche Bilder sind zart in die Verse gestrichen. Zwischen Staunen und Glühen lauert aber die Schlange. Denn dichte Hermetik nötigt dem Leser/der Leserin besondere Genauigkeit ab, weil der Blick hinter das Augenweiß gefordert ist. Experimentelles zeigt er in zahlreichen Sprachspielereien, Wortneuschöpfungen oder im kunstvollen Aufreißen der Verszeilen. In seinen tiefgründigen Variationen über die menschlichen Daseinsformen blüht manchmal auch ein abgeklärter Gestus. Dann heißt das beispielsweise so: "Arkadien ist immer eben. / Nicht ein Knick. Kein / Knirschen hörst du nie im Leben."
Tagesform
Gedichte auf Zeit
Von Felix Philipp Ingold
Literaturverlag Droschl, Graz 2007
94 Seiten, geb., € 16,50