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Wo steht China heute?

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Chinas heutige Lage, sein Bürgerkrieg, seine sozialen Umwälzungen und die Untergrabung seiner uralten Traditionen, wird häufig auf den einfachen Nėnner gebracht, der auch das Geschehen in anderen Ländern kennzeichnet: auf die große Auseinandersetzung zwischen Moskau und Washington. Wenn diese Erklärung auch äußerlich völlig gerechtfertigt scheint, so ist es doch gefährlich, ein derartig einfaches Schema auf China anzuwenden. Eine ’ viertausendjährige Vergangenheit, eine Tradition, eine ' Morallehre und eine Philosophie, deren Alter man ebenfalls in Jahrtausenden messen muß, können nicht so einfach in Ideologien bewertet werden, die nach chinesischem Maßstab unendlich. jung sind. Um Chinas Lage in der großen Auseinandersetzung auch mit den rechten Augen zu sehen, muß man sich fragen, wieviel von der langen Vergangenheit noch, am Leben i§t und welche Kraft ihm innewohnt.

Ist China heute noch elastisch und stark? Ist es’nicht schon seit Jahrhunderten erstarrt und lebt von seiner einstigen Größe? Liegt nicht darin schon eine gewisse Schwäche, daß China während der Tang-Dynastie im 9. Jahrhundert eine kulturelle Blüte erreichte, die es später niemals mehr überbieten konnte? Seit der nädifölgencW Sung- Dynastie verflachte die Kuiįst, ;,diė man?. Vielleicht als den inneren Ausdruck der-Stärke-, .Chinas betrachten darf, und heute gibt es an Stelle schöpferischer Künstler nur noch, geschickte Handwerker und Kopisten. Kann ein abgeklärtes, müdes China den starken Kräften des 20. Jahrhunderts Widerstand leisten?

Chinesen werden diese Frage mit der Selbstsicherheit ihrer langen Vergangenheit bejahen. Sie werden darauf hinweisen, daß ihr Land zwar oft militärisch besiegt, aber nie erobert wurde. Sie werden die: Tataren, die Mongolen und die Mandschu aufzählen, all die Eroberer, die vom Norden kamen und vom Drachenthron herrschten. Heute sind diese mächtigen Eroberer ethnologische Merkwürdigkeiten, aber China, das ewige, unveränderliche China, besteht weiter.

Man kann dieser chinesischen Selbstsicherheit entgegenhalten, daß die genannten Völker zwar militärisch überlegen, kulturell aber unterlegen waren. Sie waren primitive Völker, die der Kultur Chinas verfielen und von ihr aufgesogen wurden.

Das 20. Jahrhundert kommt nicht als militärischer Eroberer, seine Ideen, seine Weltanschauung und seine Zivilisation sind seine Waffen. Kann China auch hier assimilieren?

Wieder mag die chinesische Antwort bejahend sein, diesmal vielleicht mit weniger Überzeugung und weniger historischen Beispielen: Der Buddhismus, der das geistige Antlitz des östlichen Asiens völlig verändert hat, erschütterte China bis in seine Grundfesten. Das sachlich veranlagte China war in Gefahr, ein zweites Indien der Grübler und Mystiker zu werden, aber in einem Abwehrkampf, der viele Jahrhunderte dauerte und oft nicht nur geistige, sondern auch gewaltsame Maßnahmen zeigte, fand China wieder auf den Weg der goldenen Mitte zurück — hier der mystische Buddhismus und Taoismus, dort der sachliche Konfuzianismus. Alle drei bestehen harmonisch im Herzen der Chinesen nebeneinander, und der Konfuzianismus ist, wenn man ihren Alltag betrachtet, noch immer vorherrschend.

Das Beispiel des Buddhismus ist nicht völlig überzeugend. Der Buddhismus war eine Religion, eine Philosophie, die die Gläubigen und die Denker erfaßte, aber die Masse der Bauern und Handwerker verhältnismäßig unberührt ließ. Der Einbruch des Westens mit seinen Maschinen und seiner Industrialisierung erfaßt gerade die große Masse, die bisher die Hüterin der Tradition war.

Mit der Revolution von 1911 ist das Kaiserhaus, der Mittler zwischen Menschen und Göttern, gefallen. Aber wie so oft in Zeiten eines Interregnums oder innerer Wirren blieb, diese Veränderung auf die Spitze des Staates beschränkt und hatte kaum irgendwelche Folgen auf sein 'Fundament, das Volk.

Das Volk lebte weiter in der Moral seines uralten Familiensystems, das von Konfuzius ausgebaut und in seine heute noch geltenden Normen geformt wurde, das von Laotse mystifiziert und von Buddha verinnerlicht wurde. Der Konfuzianismus ist mehr eine Morallehre als. eine Religion. Er ist klar und verständlich und bestimmt in seinen Grundzügen das Verhältnis zwischen .Herrscher und Beamten, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Mann und Frau und zwischen Freunden. Innerhalb dieser fünf „menschlichen Hauptbeziehungen“ sind alle Möglichkeiten des persönlichen Verhaltens geklärt und festgelegt. Konfuzius ist gleichsam ein Knigge des chinesischen Lebens. Aber selbst der sachliche Chinese ist mit diesen allzu klaren Deutungen nicht vollständig zufrieden. Sein Geist sucht auch nach Dingen, die sich nicht so klar und deutlich ausdrücken lassen. Der Taoismus und Buddhismus gibt die mystische, man könnte fast sagen nihilistische Ergänzung. Lin Yutang kennzeichnet den Unterschied zwischen Konfuzianismus und Taoismus dahin, daß ein erfolgreicher Beamter Konfuzianist, ein Beamter im Exil Taoist ist.

Das chinesische Leben 'mit seinen tausendfachen Einzelheiten wird von dieser Morallehre stärker beeinflußt als das heutige europäische Leben von seinen philosophischen und pseudoreligiösen Doktrinen. Der Konfuzianismus stützt sich hauptsächlich auf die Familie — drei der menschlichen Hauptbeziehungen liegen innerhalb der Familie — und macht sie so zur wichtigsten Zelle Chinas. Diese clanartige Großfamilie mit vier Generationen und oft mehr als fünfzig Mitgliedern schlichtet alle Vergehen und Streitigkeiten durch das Familienoberhaupt oder einen Rat der Alten. Der Chinese fühlt sich mehr seinen Eltern — gleichgültig ob sie tot sind oder noch leben — als dem Staate gegenüber verantwortlich. Durch diese Verpflichtung — der Chinese soll zum Beispiel den von den Eltern erhaltenen Körper unversehrt bewahren — wird Nationalismus oft ein Vergehen gegen die kindliche Pietät.

Der Westen mit seiner Emanzipation der Jugend, die natürlich auch in China um sich greift, erschüttert in der Familie den wichtigsten Träger des Konfuzianismus. Eine andere Gefahr ist die fortschreitende Industrialisierung und Anziehungskraft der großen Städte, die die Familien auseinanderreißt und einzelne Familienmitglieder in völlig neuartige Lebensverhältnisse versetzt. Da also verschiedene Lebensformen des 20. Jahrhunderts sich nicht in die starre Zucht des Konfuzianismus pressen lassen, muß sich die Großfamilie umstellen und neuen Einflüssen Rechnung tragen. Und jedes äußere Zugeständnis bedeutet einen Verlust an innerer Stärke.

Diese Probleme tauchen für China heute nicht erstmalig auf. Schon als vor hundert Jahren in Südchina der erste Zusammenprall mit westlichen Ideen erfolgte, erkannten manche Reformer die Notwendigkeit, den Konfuzianismus den westlichen Erfordernissen anzupassen. Die Revolution von 1911 wollte gewaltsam mit der starren Vergan genheit brechen. Die Schriften Konfuzius’ verschwanden aus den Schulen und seine Anbetung wurde untersagt. Herbert Spencer urteilt richtig, wenn er sagt, es sei für ein Amphibium genau so gefährlich, seine Kiemen abzuwerfen, bevor die Lungen entwickelt sind, wie es für eine Gesellschaft gefährlich sei, alte Einrichtungen zu zerstören, bevor neue geschaffen wurden. China bekam die Wahrheit dieses Satzes zu spüren, es stand plötzlich vor einem geistigen Vakuum, dessen tiefinnere Folgen es heute noch trägt. Inzwischen ist offiziell eine gewisse Rückkehr zu Konfuzius erfolgt und neue Konzepte — wie das „Neue Leben“, dessen Sponsorin Madame Chiang Kaishek war —wurden geprägt, aber das Vakuum besteht weiter. Nun muß allerdings bedacht werden, daß alle diese Verfalls- und Erneuerungserscheinungen auf eine dünne Oberschicht beschränkt waren, daß die große Masse der Bauern und des Mittelstandes unberührt davon nach den alten Sitten weiterlebte. Aber das Schicksal eines Volkes wird nicht durch das Phlegma der Masse, sondern durch die Ideen einiger Führer bestimmt.

Ist aber die in der Revolution 1911 entstandene Lehre Sun Yatsens von den „drei Volksprinzipien“ in der Lage, die moralische Grundlage eines neuen Chinas zu sein? Zweifellos übte Sun Yatsen einen weitgehenden Einfluß auf die Entwicklung des heutigen Chinas aus, aber sein Leben und seine Schriften zeigen, daß er abwechselnd unter dem Einfluß Japans, Rußlands und des Westens stand und versuchte, das Beste dieser drei Kulturkreise für China dienstbar zu machen. Seine drei Volksprinzipien, die etwa mit den modernen Begriffen Nationalismus, Demokratie und Sozialismus zu umschreiben sind, zeigen weitgehend russischen Einfluß, der damals in Südchina vorherrschend war und mit dem er sidi — wenigstens für einige Zeit — enge verbündete. Als Grundlage der politischen Ideen Sun Yatsens kann das Prinzip Lincolns gelten: Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk.

Sun Yatsen ist heute der offizielle Abgott Chinas. Aus hunderttausend Bildrahmen blickt er, ein ehrwürdiger Vater, auf sein ’Volk herab. Seine drei Prinzipien wurden zu der offiziellen Bibel Chinas. Aber — fragt man sich oft — ist es nidit eine künstlich gewollte, mystische Verehrung, die im Volk nicht sehr viel Widerhall findet? Man suchte dem Volk einen neuen Gott für die zerschlagenen Götter zu geben, aber China zeigt kaum Neigung, den neuen Gott anzubeten. Der Mystiker wendet sich noch immer zu Buddha und Laotse, und das sachlidie Leben wird noch immer von Konfuzius geregelt. Ein neuer Gott wäre nötig, aber Sun Yatsen ist als Persönlichkeit und Lehrmeister nicht groß genug, um das vorhandene Vakuum zu füllen.

Und während dieser götterlosen, schrecklichen Zeit schreitet der Verfall des Konfu-

zianismus fort. Mit Sem Kaiserhaus fiel auch die traditionell geschulte Beamtenschaft, die tatsächlich eine Priesterschaft des Konfuzianismus war. Jedes westliche Buch, jede nach westlichen Gesichtspunkten geleitete Universität untergräbt die Autorität der Familie. Selbst die Kaufmanns- und Handwerkergilden, eine weitere Stütze überlieferter Gepflogenheiten, haben ihre Stärke verloren. Das Alte stürzt, und noch ist nichts Neues zu erkennen.

Schon vor mehr als einem Jahrzehnt, als der Völkerbund noch bestand, erklärte ein chinesischer Politiker: China könne im Westen nur an zwei Orten geistige Anleihen machen, in Genf oder in Moskau. Der Geist von Genf, der trotz vieler Fehlschläge durch lange Jahre eine neue Hoffnung darstellte, hat -wahrscheinlich für den sachlichen und skeptischen Chinesen einen Großteil seines Nimbus eingebüßt. Die Zerstörung Europas und die während und nach dem Krieg verübten Taten, die weder politische Einsicht noch menschliche Güte zeigten, können den suchenden Chinesen kaum aneifern, voll Hoffnung nach Europa zu blicken.

Moskau hat heute in China einen starken Anhang, der sich durch fast zwei Jahrzehnte gegen stärkste Militärmaßnahmen der Nanking-Regierung nicht nur behauptet, sondern in letzter Zeit sein Einflußgebiet bedeutend erweitert hat. Inwieweit die chinesischen Kommunisten aber der Parteilinie Moskaus folgen, wie stark ihre sachlichen und geistigen Bindungen zu Moskau sind, ob sie nicht in der Hauptsache bloß eine Agrarreform durchführen wollen, all das sind Fragen, die von den verschiedenen Kennern der Verhältnisse verschieden beantwortet werden.

China sieht sich heute, da es im Westen nach einer neuen Idee, nach einem neuen Glauben, nach einem neuen System der Wirtschaft Ausschau halten könnte, einem Westen gegenüber, der in seiner inneren Zerrissenheit und Leere kaum ein einladendes Vorbild sein kann.

China hat . nie die Minderwertigkeitsgefühle anderer asiatischer Völker geteilt, mit denen diese die zivilisatorischen Errungenschaften des Westens betrachteten.

Es hat in seinem Inneren wahrscheinlich niemals daran gezweifelt, daß es das auserkorene Land der Mitte sei. Es hat nie wie Japan versucht, den Westen einzuholen. Seine Familienstruktur und seine primitive agrare Wirtschaft machen es gegen politische und wirtschaftliche Katastrophen verhältnismäßig immun. Die gegenwärtige katastro-

phale Inflation berührt einige Kaufleute und die Bewohner der großen Städte, aber die dreihundert oder vierhundert Millionen Bauern leben ' in nahezu autarker Kleinwirtschaft und spüren davon wenig. Natürlich hat der Bürgerkrieg ungeheure Folgen gehabt und man schätzt die heimatlosen Flüchtlinge auf dreißig Millionen. Aber China hat seine Katastrophen immer in Extremen gemessen, es ist kein Land, sondern ein Kontinent, und selbst ein Meer des Leidens kann es nicht völlig überfluten. Vielleicht hat das zerrissene blutende China noch immer innere und äußere Kraft genug, um auszuharren. Vielleicht besinnt es sich in dieser Leidenszeit auf sich selbst und paßt die reichen geistigen Güter seiner Vergangenheit den Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts an, die es ja doch nicht aufhalten oder ändern.kann. Vielleicht auch gibt ihm eine bewußte innere Rückkehr genügend Halt, um im Gegenspiel der Kräfte, nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen, ein vollwertiger Partner zu sein, nidit ein zerrissenes Objekt. Wenn man Chinas Vergangenheit und Leistungen kennt, möchte man dies zum Wohl der ganzen Welt wünschen.

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