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„Wollen Sie einen Termin, Darling?"

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Ungewollt schwanger? In Amerika bieten zahlreiche Abtreibungskliniken ihre Dienste an. Beim Kampf mit dem Gewissen bleiben die Betroffenen hingegen meist allein. Wie überall auf der Welt. Eine Reportage aus New York.

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Ungewollt schwanger? In Amerika bieten zahlreiche Abtreibungskliniken ihre Dienste an. Beim Kampf mit dem Gewissen bleiben die Betroffenen hingegen meist allein. Wie überall auf der Welt. Eine Reportage aus New York.

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Das Haus sieht aus wie jedes andere. An der Ecke ein Gemüseladen und im Hauseingang quellen die Briefkästen über. Bechts-anwälte und Ärzte teilen sich die Büros. Das Licht ist nicht besonders hell in diesem Hausgang. Während andere Leute an Sandra vorbei in den Aufzug drängen, bleibt sie zurück. Sie traut sich nicht zu fragen, in welchem Stock das Medical Center ist. Nach einigen Minuten entdeckt sie das Schild: „Medical Center, Member of the Medical Board Association". Während der Aufzug anhält und die Tür sich öffnet, fällt der erste Blick auf eine rosa Welt im dritten Stock in Midtown-Manhattan. Die Wände sind rosa getüncht, der Teppich, die Vorhänge, alles ist in diesem Pastellton gehalten. Die triste, graue Stimmung soll wohl einfach übprtüncht und somit die Situation angenehmer gemacht werden.

„Guten Morgen meine Liebe. Wünschen Sie einen Termin?" Eine freundliche schwarze Dame mit großen Ohrringen und langen, rotlackierten Fingernägeln empfängt sie hinter dem Schreibtisch. Unsicher blickt das Mädchen auf die sieben, bereits wartenden Frauen im Vorzimmer. In den Gesichtern spiegelt sich Unsicherheit, Angst, aber auch Erlösung wider. Unsicherheit, weil sie das Ergebnis der Schwangerschaftstests noch nicht wissen. Angst, weil sie die Abtreibung noch vor sich haben und Erlösung, weil sie nur zur Nachkontrolle vorbeikommen müssen.

Die Mädchen und Frauen stammen aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten und üben die verschiedensten Berufe aus. Ein Grund läßt sie jedoch alle in diesem rosa Vorzimmer zusammenkommen. „Wollen Sie einen Termin, Darling?" Sandra schreckt hoch. In diesem Moment fehlen ihr die Worte, sie haucht lediglich ein „Ja". Unhörbar für die anderen im Baum. Während die Dame hinter dem Desk die Personalien aufnimmt, drückt sie ihr einen Papierbecher in die Hand.

Erst jetzt merkt Sandra, daß die Sekretärin schwanger ist. Aber sie scheint glücklich zu sein mit dieser Schwangerschaft. Zu weiteren Überlegungen kommt Sandra vorerst nicht, mit einer Handbewegung deutet die schwarze Sekretärin auf eine rosa getünchte Tür, die in die weiteren Räume hinter dem Vorzimmer führen. Nach wenigen Minuten stellt Sandra ihre Urinspende neben vielen anderen Bechern im Labor ab. Damit soll im Urin ein Schwangerschaftshormon nachgewiesen werden. Das Mädchen mit den langen blonden Haaren wagt einen Blick auf die anderen Zettel, die unter den kleinen weißen Bechern liegen.

Auf dem ersten Zettel steht schwarz auf weiß: Melissa, 19 Jahre, schwanger. Sich umblickend, ob sie niemand beobachtet, zieht sie einen anderen Zettel unter einem Becher hervor: Stephanie, 22 Jahre, schwanger. Sandra überlegt: „Wie haben diese Mädchen wohl reagiert? Sitzen sie noch draußen im Wartezimmer? Haben sie sich für oder gegen eine Abtreibung entschieden?" Während Sandra die restlichen Zettel der anderen Becher überfliegt, stellt sie erschrocken fest: Fast alle Urinproben sind positiv. „Vielleicht ist mein Test ja negativ, vielleicht bin ich ja gar nicht schwanger?" Mit diesem Gedanken geht sie zurück in das Wartezimmer.

Am Abend zuvor hatte sie einen Schwangerschaftstest aus dem Drugstore gemacht. Positiv! Vielleicht war dieses Ergebnis aber auch nur falsch, die Chemikalien bei diesen Tests können manchmal falsch reagieren. Eines steht jedoch für sie seit der ersten Minute nach dem Test gestern schon fest: Sie kann sich jetzt keine Schwangerschaft leisten. Sandra ist 21 Jahre alt. Man wird sie demnächst versetzen, wieder eine Stufe höher auf der Karriereleiter. Ihr Wunsch wird sich erfüllen, sie wird nach Europa versetzt werden. Mit knapp 22 Jahren wird sie demnächst als stellvertretende Leiterin einer Computerfirma für den europäischen Raum zuständig sein. Ein Kind ist da nur hinderlich, da sie viel herumreisen muß. Außerdem wäre sie in der Schwangerschaftszeit nur bedingt einsetzbar und würde gerade dann, wenn sie sich etwas aufbaut, eine Babypause machen müssen.

Sie kann auch nicht für ein Kind sorgen. Wie soll sie ohne festen Job, ohne Geld dem Kind ein gutes Zuhause bieten? Sandra ist verzweifelt und unglücklich. Mit ihrem Ex-Freund wollte sie nicht auf immer und ewig zusammen sein. Jetzt ist sie erst einmal ins Medical Center gekommen, um den Test zu überprüfen.

„Sandra, wollen Sie bitte zu mir kommen?" Die Dame vom Empfang reicht ihr mit einem wohlwollenden Lächeln auf den Lippen einen rosa Zettel. Dieselben Zettel hatte sie schon vorher im Labor betrachtet. Sandra sieht nur auf das Ergebnis: Ich bin schwanger! Das ist der einzige Gedanke, der Sandra jetzt durch den Kopf schießt. „Wollen Sie gleich hierbleiben für die Prozedur?" Die Antwort kommt mechanisch: „Wie? Ja, ich denke schon." Während sie gerade noch verarbeitet, daß sie tatsächlich schwanger ist, daß in ihrem Bauch ein Baby heranwachsen soll, geht das Geschäftliche weiter. In diesem Augenblick ist es ihr egal, was es kostet. Bezahlt wird mit Kreditkarte, je nach Fortschritt der Schwangerschaft verteuert sich der Preis für die Abtreibung. 350 US-Dollar, weil sie bereits im dritten Monat ist. Aber das ist noch bezahlbar, eine Abtreibung im sechsten Monat kostet dann schon rund 600 bis 700 US-Dollar. Alles nur eine Geldfrage.

Während Sandra sich wieder hinsetzt, betrachtet sie die anderen. Vielleicht ist eines der Mädchen Melissa oder Stephanie, deren Zettel sie vorher gesehen hatte. Das eine Mädchen ist mit ihrer Freundin gekommen, über Freunde wurde geredet. Ziemlich lustig, so als wäre es das Normalste auf der Welt, demnächst eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

,Die Mädchen wirken eigentlich noch jünger als 20 Jahre. Mit bunten, langen Ringelsocken und grellen Miniröcken saßen sie gerade noch ziemlich keck auf den weißen Plastikstühlen. Direkt vor dem Fenster, eine Aussicht ist aus diesem Zimmer sowieso nicht besonders interessant, Wolkenkratzer mit Bürofenstern, mehr ist da nicht zu sehen. Es ist nicht einmal einer jener Tage, bei denen bei Regenwetter rosa Dunst zwischen den Straßen durch die Schluchten der Wolkenkratzer gen Himmel emporsteigt. Während eines der Ringelsocken-Mädchen hinter der rosa Tür verschwindet, geht die Freundin. Sie wird später wiederkommen, um die andere abzuholen, nach der Abtreibung. Sandra wird niemand abholen, sie wird sich später ein Taxi rufen. Wer sollte sie auch sonst abholen? Sie konnte es ja nicht einmal ihrer besten Freundin sagen, aus Angst, sie könnte in der Achtung ihrer Freunde, Eltern sinken. Sie blickt auf die Tür, hinter der das Ringelsocken-Mädchen gerade verschwunden ist.

Der Gang, der dahinter beginnt, mündet in zwei freundliche Büros, die nicht erahnen lassen, wie es weiter gehen soll. Im Laufe der Wartezeit fallen Sandra Namen ein, Kindernamen. Jaqueline vielleicht, Sandra wollte immer schon so heißen. Aber gleich im nächsten Moment beschäftigen sie andere Dinge mehr: „Wie wird diese ,Prozedur' aussehen, werde ich nachher Schmerzen haben? Ist es wirklich die richtige Entscheidung, die ich getroffen habe?" Sandra blickt an sich herunter. Sie hat sich seriös gekleidet: Über dem Jeanshemd ein schwarzes Sakko. Mit diesen Gedanken beruhigt sie ihr eigenes Gewissen. Sie tut jetzt etwas „Vernünftiges".

Das Jeanshemd verdeckt, daß sie den obersten Knopf und den Beißverschluß ihrer weißen Jeans nicht mehr zubekommt. In den letzten Tagen war es ihr zwar immer wieder aufgefallen, daß die Hosen enger wurden, aber Sandra schob das auf die köstlichen Schokokekse, denen sie nicht widerstehen konnte. Nach einiger Zeit hat sich das Wartezimmer geleert.

Es ist mittlerweile elf Uhr vormittags geworden. „Kommen Sie bitte mit." Eine freundliche schwarze Schwester begleitet Sandra ins Labor und verabreicht ihr eine Injektion. Sandra glaubt, diese Spritze nicht zu überstehen, denn Spritzen sind sowieso immer das Schlimmste für sie, aber es ist gleich vorbei. Weiter geht es den Gang entlang, vorbei an den freundlich ausgestatteten Büros.

In einem großen Saal, an einem Schreibtisch in einer Ecke, muß Sandra Platz nehmen. Eine andere Schwester legt Sandra ein Formular vor: Wie ist es zu der Schwangerschaft gekommen? Die Schwester fragt, ob sie irgendwelche Krankheiten hat? Ob sie weiß, wie man verhütet? Ja, natürlich weiß sie das. Trotzdem ist es passiert.

Sandra wird weiter in einen Umkleideraum begleitet. Dort drückt ihr eine andere Schwester ein Papierkleid, das am Rücken mit Bänden zu schnüren ist, in die Hand. Die Papierschuhe sind ebenfalls in dezentem rosa. In der Umkleidekabine hat Sandra die seltsamsten Gefühle. Was wird auf sie zukommen? Schließlich sitzt sie mit einigen anderen Mädchen, in rosa Papierkleidchen, auf einer Bank und wartet. Mandy erzählt ihr, daß sie das hier schon zweimal gemacht hat. Sie hätte doch schon zwei Kinder, zwei Mädchen. Das müsse jetzt das letzte Mal sein.

Sandra wird in den Operationssaal geführt. Alles wirkt so kalt, die Geräte blitzen im grellen Licht der OP-Lampen. Der gynäkologische Stuhl fühlt sich ebenso kalt an, als sich Sandra darauf setzt. Überall blitzen medizinische Bestecke, es riecht penetrant nach Desinfektionsspray. Die Schwestern, dieses Mal mit grüner OP-Be-kleidung und Mundschutz, schmieren ihr ein Gel auf den Bauch. Damit wird der Fötus auf dem Bildschirm per Ultraschall sichtbar.

Das alles hatte sich hinter der rosa getünchten Tür im Vorzimmer nicht erahnen lassen. Komplette Operationssäle im dritten Stock, das hatte doch vorher alles viel kleiner gewirkt. Während sie auf dem OP-Tisch liegt und die Narkose beginnt, bekommt Sandra einen Weinkrampf. Die Anspannung und Angst lösen sich durch das Narkosemittel. Das Weinen schlägt schließlich in einen tiefen Schlaf um.

Als Sandra wieder zu sich kommt, ist es zwölf Uhr mittags, und sie liegt in einem Gitterbett in einem großen Saal. Um sie herum wachen andere Frauen gerade auf. Ihr ist fürchterlich schlecht. Sie will nur eines: schlafen. Doch die Schwestern hindern sie daran. Sonst kommt der Kreislauf nach der Narkose überhaupt nicht mehr in Schwung. Mit einem Leintuch um den Rücken und rosa Papierschuhen an den Füßen sitzt sie in einer Runde von Frauen. Es gibt Tee oder Kaffee, dazu Schokokekse, die sie so gern mag. Kaum gehfähig, steigt sie eine halbe Stunde später in ein gelbes Taxi ein. Die Papierkleider liegen im Müllkübel, die Schwestern haben ihr noch einige Tabletten mitgegeben, daß es zu keiner Entzündung kommt. Ein Hinweis wird ihr noch mitgegeben: Zwei Wochen lang nicht baden und keinen Geschlechtsverkehr.

Zwei Wochen später kommt Sandra noch einmal zur Nachuntersuchung vorbei. Auch dieses Mal ist das Wartezimmer voll mit jungen Mädchen, aber auch mit älteren Frauen. Bei der Nachuntersuchung ist alles in Ordnung. Während der nächsten Wochen denkt sie immer noch über die Abtreibung nach. Es ist alles, als ob es erst gestern passiert wäre, dabei läuft ihr jedesmal ein Schauer über den Rücken. Wie hätte ihr Baby ausgesehen? Hätte es blaue oder braune Augen gehabt, oder hätte es ihre sportliche Ader geerbt? Wenn sie die Babys ihrer Freunde betrachtet, denkt sie nach, wie es gewesen wäre.

Aber beim Nachdenken bleibt es, denn sie kann ihre Geschichte niemandem erzählen...

Die Autorin ist

Mitarbeiterin der Furche.

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