Werbung
Werbung
Werbung

Der Prozess der quälenden Fragen, von Claudia Brunner und Uwe von Seltmann dokumentiert.

Jedes Buch, das heute über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben wird, ist auch eine Auseinandersetzung mit der ungestellten Frage des Schlussstrichs. Den beiden Autoren des Bandes hat sich die Vergangenheit auf die Seele geschlagen.

Wie lebt es sich mit dem Wissen, dass der Großvater ein Mörder im Dienste der Judenvernichtung war? Welche Strategien müssen eingeschlagen werden, um den Schutzmantel des Schweigens abzustreifen?

Nichte eines Mörders

Claudia Brunner ist die Großnichte eines Mörders. Alois Brunner, der vielleicht noch in Syrien lebt oder 2001 gestorben ist, war für den Tod von 130.000 Menschen verantwortlich. Nachforschungen, ein Element der Geschichtswissenschaft, ist die eine Sache, zu der Claudia Brunner getrieben wird, die Psychoanalyse als Hilfe für die eigene Situation eine Folge unaufgearbeiteter Konflikte. Im Zuge der Recherche stellt sich heraus, dass die Autorin als 12-jähriges Mädchen selbst Briefe nach Syrien geschrieben hat. Die Fixierung auf die Lücke, den Onkel, den Mörder droht in manchen Passagen ins Spekulative abzugleiten: Erfolgte die Gehirnhautentzündung, an der Claudia Brunner bei ihrem Aufenthalt in Frankreich erkrankte, zur gleichen Zeit, als der Großonkel verstarb?

Konkreter und literarisch anspruchsvoller ist hingegen die Spurensuche von Uwe von Seltmann verfasst, dessen Großvater bei der Niederschlagung des Ghettos ins Warschau beteiligt war, dessen Kriegstod eine weitere Untersuchung über seine Verbrechen als nicht zielführend erschienen ließ, der aber immer in der Nähe und im Umfeld von Mördern genannt und fotografiert wurde. Der Text des Autors erzählt von Quellenrecherche quer durch Europa, zufälligen Aufenthalten an Orten, in denen auch der Großvater "wirkte", und Briefen, die der Ehemann an seine Frau nach Hause schrieb: "Leider haben wir einen Dienst, der uns eine tiefere Anteilnahme an der Entfaltung der Natur kaum gestattet."

Auffallend ist, dass beide Enkel aus ihrer Gegenwart in die Vergangenheit springen und dabei mit einem nahezu unreflektierten Kunstsprung die Elterngeneration und die Praxis des Verschweigens außer Acht lassen, so als würde das Nachdenken irgendwann plötzlich einsetzen. In diesem Sinne muss diese Auseinandersetzung als work in progress gesehen werden. Was für die Betroffenen und ihren persönlichen Prozess legitim ist, hätte für den Verlag die Notwendigkeit eines Lektorat, einer Bearbeitung der Texte bedurft.

Während Wolfgang Benz die Bedingungen für das Wissen der nachfolgenden Generationen über den Massenmord kompetent erläutert, wäre es angesichts der Gewissensbisse und Seelenqualen, mit denen die Enkel der Täter zu kämpfen haben, angebracht gewesen, in einem zweiten Aufsatz auch die psychoanalytische Dimension zu überprüfen.

Diese Kritik soll jedoch keineswegs als Missachtung des angesichts der familiären Situation gewagten Weges, auf dem sich beide Enkel befinden, zum Ziel der auch schmerzlichen Objektivität und historischen Wahrheit angesehen werden.

Schweigen die Täter - reden die Enkel

Von Claudia Brunner und Uwe von Seltmann

Edition Büchergilde, Frankfurt 2004

190 Seiten, geb., e 19,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung