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Digital In Arbeit

Wozu brauchen wir den 1. Mai?

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Wofür demonstrieren denn eigentlich arbeitende Menschen am 1. Mai heute noch? Hat ihnen der Wohlfahrtsstaat nicht alles gebracht, was sie sich wünschten? Die Leute wissen doch gar nicht mehr, was sie mit der Zeit und mit dem Geld anfangen sollen. Der Kampftag und Festtag der Arbeitnehmer in aller Welt ist nach dieser Auffassung höchstens mehr ein historischer Gedenktag ohne aktuelle Bedeutung etwa für die österreichischen Arbeiter und Angestellten der Gegenwart. Und vielleicht nickt auch mancher Arbeitnehmer zustimmend zu solchen Ansichten und dreht sich wohlig noch einmal im Bett herum. Heute ist der 1. Mai, da kann ich mich ruhig ausschlafen. Marschieren, Feiern, das laßt doch ruhig den paar Unentwegten über. Wir wollen Ruhe haben und froh sein, wenn es uns nie schlechter geht.

Wir aber meinen, daß vielleicht noch keine Zeit mehr diesen Festtag der Arbeit und damit den Festtag des Menschen gebraucht hat wie diese zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Uns geht es gut? Erfreulicherweise ja, sehr vielen geht es gut. Aber auch in Österreich bei weitem noch nicht allen. Vom Wohlstand merken manche noch wenig. Vor allem dort, wo eine größere Familie ist und nur einer verdient, ist die Anschaffung eines Anzuges oder eines Paar Schuhe noch immer ein Problem. Für einen Rentner kann die Erhöhung des Milchpreises und des Brotpreises eine Existenzfrage sein. Und vergessen wir auch nicht: An diesem 1. Mai 1964 leben über drei Milliarden Menschen auf der Erde. Zwei Milliarden davon leben in Hütten und Höhlen, ohne Fabriken, ohne Krankenhäuser, ohne Schulen. Allein an diesem einen Festtag der arbeitenden Menschen werden Tausende in der Welt verhungern, pro Jahr sterben dreißig bis vierzig Millionen Menschen, weil es nicht zu einer Handvoll Reis reicht. Und eine Milliarde Menschen wird satt sein, zu satt. Sie. wird schläfrig sein. Aber sie wird in Angst leben, ohne Gewißheit des Friedens.

Auch in Österreich gehören viele zu den Satten und Müden. Wir mögen keine Politik. Wir feiern lieber zeitgemäß: Mit Frau und Kindern und Brathühnern bevölkern wir Wälder und Wiesen.

Und weil solches Feiern irgendwann einmal aufhört, einen Sinn zu haben, droht der eine oder der andere des Feierns müde zu werden, Wir werden den 1. Mai erst dann wieder als Festtag feiern, wenn wir den Sinn dieses Tages begriffen haben.

Die Arbeiterbewegung ist in Europa vor mehr als siebzig Jahren zum Kampf angetreten für eine menschlichere Welt. Am 1. Mai wollte man vor aller Öffentlichkeit für diese neue Welt demonstrieren, deren Leitstern nicht das Gewinnstreben, sondern Menschlichkeit und Gerechtigkeit sein sollten. Haben wir unsere Welt wirklich schon so sehr vermenschlicht? Wir sollten doch eines nicht verwechseln: Menschsein ist bis heute noch nicht ganz identisch mit der Verspeisung von Wiener Schnitzel und Gurkensalat. Satt zu sein, menschenwürdig leben zu dürfen, weiß niemand mehr zu schätzen als jene, die so viele Jahre hungrig waren. Aber materiell satt zu sein allein, ist zu wenig.

So viel Enttäuschung, all das viel zitierte Unbehagen unserer Zeit sind doch oft gar nicht im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich begründet, sondern im menschlichgeistigen.. Das große ungelöste Problem, vor dem die Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution stehen, ist: Können wir den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt auch geistig bewältigen. Wir leben in einer Zeitepoche,'in der die Wunder der technischen Zivilisation und die wachsende Fülle der materiellen Güter den Menschen faszinieren. Wird der Mensch dieser wachsenden materiellen Macht Herr oder ihr Sklave werden? Darauf gibt es nur eine Antwort. Entweder das gesellschaftliche und mitverantwortende Bewußtsein des Menschen wird sich heben, oder wir werden in der Konsumbarbarei versinken. Diese Mitverantwortlichkeit wird sich jedoch nicht automatisch mit dem Fortschritt der Technik herausbilden, sondern durch politisches Handeln müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß menschliche Freiheit und Würde in der technischen Zivilisation gewahrt bleiben. Wenn wir die Möglichkeiten des Atomzeitalters nützen wollen, heißt es, neue Schwerpunkte im Bereich der Wissenschaft und Bildung zu schaffen. Es wäre eine Konkurserklärung der Arbeiterbewegung, wenn sie den Menschen nicht mehr wünschen und bringen könnte als mehr Fernsehapparate, Kühlschränke, Autos, mehr Lebensstandard. Die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen ist Voraussetzung, aber nicht Vollendung eines Kulturstaates. Während der Mensch sich aber seiner materiellen Not immer bewußt wird, ist es ihm nicht von vornherein gegeben, auch seine geistige Armut zu erkennen. Sie muß ihm bewußt gemacht werden, wenn er sie überwinden soll. Durch die Behebung der materiellen und sozialen Not soll der Mensch ansprechbar werden für die großen Anstrengungen, die er der Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit widmen muß.

Gerade in den Ländern, in denen die fortgeschrittene Technik eine zunehmende Steigerung des Lebensstandards mit sich bringt, müssen die Arbeitnehmerorganisationen mehr und mehr Energie darauf verwenden, daß jeder auch Anteil an den kulturellen Gütern nehmen kann. Heute sind die Probleme der kulturellen und geistigen Freiheit gegenüber den sozialen und ökonomischen Fragen zumindest gleichwertig. Die geistigen Probleme, und i das heißt die eigentlichen mensch- ! liehen Probleme, stellen eine Auf- '. gäbe, die nicht automatisch mit dem ! sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt gelöst ist. Eine neue Zeit erfordert ein neues Denken, eine neue Generation von Menschen. Diese Generation müßte Mut zu einer neuen Sachlichkeit gewinnen, den Mut zur Wahrheit, auch wenn sie unpopulär ist, zu einer Weltoffenheit, die Raum hat auch für den Andersdenkenden oder Andersfarbigen. Was wir heute brauchen, ist ein Weltbild, das gleichermaßen Raum hat für das Geistige und Materielle. Die Arbeitnehmerorganisationen haben Gewaltiges für die Sicherung der sozialen Rechte getan, sie haben die materielle Not gelindert. Aber die Verwirklichung ihres eigentlichen Anliegens liegt noch vor ihnen. Die Gewerkschaften als wichtigste Arbeitnehmerorganisation sind heute nicht weniger als andere Kräfte in Gefahr, in die Rolle einer bloßen Interessenvertretung zu fallen. Die politisch Verantwortlichen in jeder Organisation müssen aber dazu finden, Politik nicht von den bloßen Alltagserfordernissen bestimmen zu lassen, sondern auch die Alltagspolitik aus einem Weltbild der Menschlichkeit zu gestalten.

1. Mai heißt heute: Der Mensch drohte am Beginn des Industriezeitalters in einer entmenschlichten Welt verlorenzugehen. Der organisierten Arbeitnehmerschaft ist es gelungen, in einem jahrzehntelangen Kampf das Menschliche auch in der Welt der Arbeit zu wahren. Das Ringen für den Menschen und um den Menschen darf aber auch heute nicht aufhören, wenn nicht aller technische und wirtschaftliche Fortschritt ein Fluch werden soll. Darum marschieren heute Millionen Arbeitende überall in der freien Welt.

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