Wüstes Porträt der verwüsteten Stadt

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Robert Neumanns wichtiger Roman über das Nachkriegswien: Einst mit Empörung aufgenommen - "Mißratene Kinder? - Mißratenes Buch!" - wurde er nun wieder aufgelegt.

Hören Sie mich aus, Mister. Nur ein Gott - hab ich schon gehört. Es hilft Ihnen überhaupt nicht. (…) No good. Einmal ein Jid, ist er immer ein Jid. Oder wenn Sie ein Nigger sind, sind Sie einmal für allemal nicht ein Arier sondern ein Nigger. Gott spielt keine Rolle." So spricht Jid, recte Jizchok Jiddelbaum, zum schwarzen Reverend Hosea Washington Smith aus Louisiana, Kaplan der U.S. Army, 1945 in einem Keller zu Wien. Jid ist ein Überlebenskünstler, zurzeit Taschendieb, auch sonst ein großer Organisierer in einer Stadt, in der "Tschicks" die Währung sind. Er hat in den Lagern alles gesehen, ist längst erwachsen, sein Alter: "Dreizehnmal dreizehnmal dreizehn. Eine ganze Inflation ist nicht genug, daß man mit ihr mein Alter sagt."

Ruinendeutsch

Wenn man die Neuauflage von Robert Neumanns "Die Kinder von Wien" als die Wiederentdeckung eines der wichtigsten und markantesten Bücher der österreichischen Nachkriegsliteratur feiert, dann ist das nicht ganz korrekt: Die vorliegende Version stammt aus dem Jahr 1974. Die ursprüngliche englische Fassung des Romans entstand tatsächlich unmittelbar nach dem Krieg, 1946; zwei Jahre darauf erschien die deutsche Übersetzung von Franziska Becker, Neumanns damaliger Ehefrau, beim Exilverlag Querido in Amsterdam. Der Kritiker des "Time Magazine" würdigte das Buch als "a bitter little tale of conquered Europe's younger generation, its postwar jargon and cynicism and the still unconquered reasons for it".

Im deutschen Sprachraum, namentlich in Österreich, wurde Neumanns wüstes Porträt der verwüsteten Stadt und ihrer Bewohner mit Unverständnis, ja Empörung aufgenommen. In der Tageszeitung "Neues Österreich" trug die mit "r.k." gezeichnete Rezension die Überschrift: "Mißratene Kinder? - Mißratenes Buch! Notwendige Korrektur eines verzerrten Bildes von Wien und seiner Jugend." In der fest zum Wiederaufbau entschlossenen Zweiten Republik wollte man nichts wissen von Kindern ohne Kindlichkeit und ohne "Moral", von Ex-Nazis, die bei den Alliierten bestens angeschrieben sind, von einer Stadt voll Gier, von Menschen, reduziert auf ihre Überlebensinstinkte.

Theodor Kramer, wie Neumann Jahrgang 1897, versuchte in jenen Jahren, ebenfalls vom englischen Exil aus, einen Gedichtband mit dem Titel "Lob der Verzweiflung" zu publizieren: ein vergebliches Bemühen, wo Optimismus in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben schien.

Die Geschichte der schrecklich abgebrühten Kinder, denen der Mann Gottes als ein schwarzer Engel erscheint, enthielt schon in ihren frühen Fassungen sprachliches Lokalkolorit. Erst die vorliegende, von Robert Neumann selbst erstellte Übersetzung jedoch verschärft das Gemisch aus Wienerisch, Jiddisch, Rotwelsch, Amerikanisch und Russisch zu einem ästhetischen Abbild der Verhältnisse: ein Ruinendeutsch, eine "heruntergekommene Sprache", wie Ernst Jandl das später genannt hat. Der mitunter forcierte Umgangssprachklang hätte einen Wolf Haas inspirieren können - wenn Neumann etwa den Ex-SS-Mann beschreibt, der eine Frau will: "Komisch, wie leis der war, wie er zum zweitenmal gekommen ist - der mit der Ami-Offizierjacke und dem Gesicht wie ein Bäcker. (…) So schicker, man glaubt nicht ein Mensch kann so schicker sein. Seine billigen Augen, weich wie kern-weiche Eier, seine Augen schwimmen in Schnaps und Schnaps, daß ihm der Schnaps aus der Haut schwitzt überall. (…) Halt ein Streichholz an ihn, explodiert er mit Flammen. Aber der - nicht ein Laut."

Unverwechselbares Buch

Erst diese sprachliche Radikalisierung macht aus einem bemerkenswerten Zeugnis der hierzulande kaum zur Geltung gekommenen Trümmerliteratur ein großartiges, ein unverwechselbares Buch, das über seine Zeit hinausweist. Die Stadt Wien, 1946/48 noch topographisch identifizierbar, ist in dieser späteren Version mit Ortsnamen wie "Sophienplatz" statt "Stephansplatz" oder "Schwarzenplatz" statt "Schwarzenbergplatz" leicht ins Allgemeingültige verfremdet: Solche Kinder hat gewiss auch der jugoslawische Bürgerkrieg hervorgebracht.

Ein ungeschmeicheltes Porträt des einstmals berühmten, heute bestenfalls als Parodist ("Mit fremden Federn") bekannten Wiener Autors, der 1975 in München starb, zeichnet Ulrich Weinzierl in seinem hochinteressanten Nachwort. Da erfährt man nicht nur einiges über Neumanns Opus magnum "An den Wassern von Babylon" (englisch 1939), sondern auch, dass der wenig Zimperliche 1965 in seinem Roman "Der Tatbestand" mit dem Helden Sahl-Sobieski sein Mütchen an Reich-Ranicki kühlte, eine Vorgeschichte zu Martin Walsers Schlüsselroman. Den eindrucksvollen Trümmerwien-Photos von Ernst Haas hätte man durchaus auch ein Bild des Autors zugesellen können.

Robert Neumann wollte 1946 die Alliierten aufrütteln, ihnen das Schicksal der minderjährigen Waisen und displaced persons vor Augen führen. Er hat keinen Propagandaroman geschrieben, er maßt sich über seine Protagonisten kein Urteil an. Neben dem Jid und dem starken Goy, dem kleinen blonden Curls, dem sterbenden Kindl im Handwagen und der fünfzehnjährigen Ewa aus Polen, die auf dem Strich dilettiert, gehört auch Ate zur Kellergemeinschaft, eigentlich Adeltraut, aber der Name ist megaout. Sie war BDMlerin, aus Überzeugung: "Ich mag große Sachen. Wo man in den Augen naß wird, und, Heil', und man kann nicht schlucken, so groß ist alles. Oder der Führer. Groß!"

Keine Lüge

Der Reverend H. W. Smith erscheint als Lichtgestalt in diesem Hades, er bringt Hoffnung, zunächst eine ganz handfeste, in Form von Kalorien, bei denen Jid natürlich Bescheid weiß: "Kalorien, das is von was man stirbt. Mann kann sterben von zwölfhundert Kalorien bei den Engländern, oder man kann sterben von neunhundert Kalorien bei den Franzosen, von achthundert Kalorien stirbt man im KZ."

Der Reverend, der bei den Kindern "Wildestiergeruch" wahrzunehmen glaubt, nährt mit seinen belegten Broten schließlich auch die Hoffnung auf eine andere Form von Menschsein, vergeblich, die Armeeobrigkeit vereitelt den Rettungsplan und straft den Retter. Muss ihn strafen. Jedes andere Ende wäre eine Lüge gewesen.

DIE KINDER VON WIEN

Roman von Robert Neumann

Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl

Verlag Eichborn, Frankfurt 2008

237 Seiten, geb., € 30,90

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