6725041-1965_28_10.jpg
Digital In Arbeit

WUNDERKIND IN ODESSA

Werbung
Werbung
Werbung

Alle Leute in unserer Umgebung — die Makler, die Kramhändler, die Bankbeamten und die Angestellten der Reederei — ließen ihre Kinder musikalisch ausbilden. Auf der Suche nach einem Ausweg spekulierten unsere Väter auf das große Los. Odessa war von dieser Manie stärker erfaßt als alle anderen Städte. Seit Jahren belieferte unsere Stadt die Konzertpodien der Welt mit Wunderkindern. Aus Odessa kamen Mischa Elman und der Zimbalschläger Gabrilowitsch, auch Jascha Heifetz hat bei uns angefangen.

War ein Junge vier oder fünf Jahre alt geworden, so führte die Mutter das winzige und schwächliche Geschöpf zu Herm Sagurski. Sagurski fabrizierte Wunderkinder, jüdische Zwerglein mit kleinen Spitzenkragen und winzigen Lackschuhen. Er stöberte sie in den Höhlen der Vorstädte, in den

.tsröjisuwisüsint ul& n&ro&iauoo, i:ni stinkenden Höfen des alten Basars auf. Sagurski gab ihnen den ersten Stoß, dann gingen die Kinder zu Professor Auer nach Petersburg. In ihnen lebte eine mächtige harmonische Kraft. Sie wurden gefeierte Virtuosen.

So beschloß denn mein Vater, den Wettlauf mit Heifetz und Mischa Elman aufzunehmen. Ich war zwar schon im vierzehnten Lebensjahr und also über das eigentliche Wunderkinderalter hinaus, aber bei meiner Schmächtigkeit konnte man mich als Achtjährigen ausgeben. Und darauf gründete sich alle Hoffnung.

Ich wurde also zu Sagurski gebracht. Aus Achtung vor meinem Großvater wollte er mich für einen Rubel pro Stunde unterrichten. Es war ein billiger Preis. Mein Großvater Lewi Itzchok war ein Streiter und die Zierde unserer Stadt. Er ging in den Straßen umher, einen Zylinderhut auf dem Kopf, die Füße mit Lappen umwickelt, und gab erschöpfende Auskunft über die sonderbarsten Dinge. Er wurde gefragt, was ein Gobelin sei, warum die Jakobiner Robespierre verraten hätten, wie Kunstseide gemacht werde, was ein Kaiserschnitt bedeutet. Mein Großvater konnte alle Fragen beantworten. Aus Achtung vor seiner Gelehrsamkeit und vor seinem Wahnsinn erklärte Sagurski sich bereit, zu einem Rubel pro Stunde Unterricht zu geben. Aber dieser Unterricht galt mehr seiner Angst vor meinem Großvater als mir.

An mir hatte er wahrlich keine Größe heranzubilden. Die Töne kreischten von meiner Geige herunter wie Eisenfeilspäne. Auch mir schnitten sie ins Herz, aber mein Vater ließ nicht locker. Zu Hause wurde über nichts anderes gesprochen als über Mischa Elman, den der Zar selbst vom Militärdienst befreit haben sollte, von dem Zimbalschläger, der nach sicherem Wissen meines Vaters dem englischen König vorgestellt worden war und im Buckingham-Palast gespielt hatte, und davon, daß die Eltern des Gabrilowitsch in Petersburg zwei Häuser erworben hatten. Die Wunderkinder hatten eben ihren Eltern Reichtum gebracht. Mein Vater hätte sich mit Armut immerhin ausgesöhnt, aber auf Ruhm konnte er nicht verzichten.

„Es ist unmöglich“, hetzten ihn die Leute auf, die an unserem Tisch aßen, „es ist doch ganz ausgeschlossen, daß der Enkel eines solchen Großvaters...“

Ich hatte anderes im Sinn. Während Ich auf der Geige Übte, hatte ich vor mir auf dem Stehpult die Romane von Turgenjew und Dumas, fiedelte aufs Geratewohl los.und verschlang Seite um Seite. Untertags erzählte ich den Nachbars-Jungen allerlei Geschichten, abends brachte ich sie zu Papier. Das Dichten war ein Erzübel unserer Sippe. Der im Alter übergeschnappte Lewi Itzchok schrieb sein Leben lang an einer Erzählung mit dem Titel „Der Mann ohne Kopf“. Ich bin ihm nach geraten.

Mit dem Geigenkasten und den Noten bepackt schleppte Ich mich dreimal wöchentlich zu Sagurski. Dort saßen hysterisch entflammte Jüdinnen mit ihren rachitischen Kindern und warteten, daß sie an die Reihe kämen. An ihre schwachen Knie drückten sie Geigenkästen, die größer waren als jene Künstler, die eines Tages im Buckingham-Palast spielen sollten.

Die Tür zum Allerheiligsten ging auf. Aus Sagurski Aroeitszimmer traten schwankenden Schrittes großkopflge, sommersprossige Kinder mit langen Händen wie Blumenstengel und geröteten Wangen. Die Tür fiel wieder zu hinter dem Zwerg, der als nächster an der Reihe war. Drinnen im

Zimmer mühte sich, sang, dirigierte der Lehrer mit der Masche, den feurigen Locken und den schlotternden Beinen. Er, der Direktor der grotesken Lotterie, begeisterte sich daran, die Vororte und die schwarzen Sackgassen des alten Basars mit den Gespenstern von Pizzicati und Kanti-lenen zu bevölkern, denen dann der alte Professor Auer teuflischen Glanz verlieh.

Hierher gehörte ich nicht. Einmal trat ich, bepackt mit dem Geigenkasten, den Noten und den zwölf Rubeln, dem Monatshonorar für den Lehrer, aus dem Haus; aber statt den Weg zu Sagurski einzuschlagen, ging ich die Tirabola hinauf und — befand mich im Hafen. Meine Lehrstunde an der Landungsstelle verflog rasch. So begann meine Befreiung. Das Empfangszimmer bei Sagurski sah mich nie wieder.

Zusammen mit meinem Spielkameraden Nemanow fand ich auf dem Dampfer „Ke^jsington“ Kontakt mit einem alten Matrosen namens Mister Trottyburn. Nemanow war um ein Jahr jünger als ich, aber er betrieb schon seit seinem achten Lebensjahr den wunderbarsten Handel der Welt. Er war ein Genie in Handelsangelegenheiten und hat auch gehalten, was er damals verhieß. Er ist jetzt Millionär in New York, Direktor der General Motors Company, die ebenso mächtig ist wie Ford.

Nemanow nahm mich überallhin mit, weil ich ihm schweigend gehorchte. Er kaufte von Mister Trottyburn Pfeifen auf, die jener schmuggelte. Diese Pfeifen wurden in Lincoln vom Bruder des alten Matrosen hergestellt. Die Pfeifen des Lincolner Meisters atmeten Poesie. In jeder von ihnen steckte ein Gedanke, ein Tropfen Ewigkeit. In ihrem Mundstück leuchtete ein gelbes Äuglein. Die Etuis waren mit Atlas ausgelegt. Ich versuchte, mir vorzuzaubern, wie Matthew Trott, der letzte Pfeifenmeister im alten England, lebte und sich dem Gang der Dinge widersetzte. — Nemanow verkaufte Trottyburns Pfeifen an Bankdirektoren, ausländische Gesandte, reiche Griechen. Er verdiente hundert Prozent.

Die schweren Wellen am Pier entfernten mich immer mehr von meinem Hause, das nach Zwiebeln und jüdischem Schicksal roch. Von der Landungsstelle übersiedelte ich auf die Mole. Dort, auf dem Zipfel eines sandigen Vorsprungs, rumorten die Jungen von der Primoskaja. Von Morgen bis in die Nacht liefen sie mit nackten Beinen herum, tauchten unter die Barkassen, stahlen zu Mittag Kokosnüsse, warteten die Boote aus Cherson und Kamenka ab und spalteten die Früchte mit einem Hieb gegen die Steine der Mole.

Mein Traum wurde das Schwimmen. Ich schämte mich, diesen bronzebraunen Jungen zu gestehen, daß ich, der ich in Odessa geboren war, bis zu meinem zehnten Lebensjahr das Meer nicht gesehen hatte und jetzt, mit Vierzehn, noch nicht schwimmen konnte. Wie spät mußte ich die nötigsten Dinge lernen! In meiner Jugend führte ich, an den Talmud genagelt, das Leben eines Weisen. Als ich groß wurde, begann ich auf Bäume zu klettern.

Das Schwimmen schien unerreichbar. Die Wasserscheu aller Ahnen — der spanischen Rabbiner und der Frankfurter Wechsler— zog mich zu Boden. Das Wasser hielt mich nicht. Zerschunden, mit salzigem Wasser vollgepumpt, kehrte ich zum Ufer zurück, zu der Geige und zu den Noten. Ich war festgebunden an die Werkzeuge meines Verbrechens und schleppte sie stets mit mir. Der Kampf der Rabbiner gegen das Meer dauerte so lange, bis sich meiner der Meeresgott jener Stätte erbarmte, der Korrektor der „Odessaer Nachrichten“, Jefim Nikititsch Smolitsch.

In der athletischen Brust dieses Mannes wohnte Mitleid mit den Judenbengeln. Er war der Anführer einer Schar rachitischer Schwächlinge. Nikititsch stöberte sie in den Wanzenbrutstätten der Vorstädte auf, führte sie ans Meer, grub sie in den Sand ein, turnte und tauchte mit ihnen, lehrte sie singen und an der Sonne braten und erzählte ihnen allerlei Geschichten von Fischen und Tieren. Den Erwachsenen erklärte Nikititsch, er sei ein Naturphilosoph. Die Judenkinder ergötzten sich an seinen Geschichten,

platzten vor Lachen und schmiegten sich an ihn wie die kleinen Hunde. Die Sonne sprenkelte sie mit wandernden, eidechsenfarbenen Sommersprossen.

Der Alte verfolgte aus einiger Entfernung schweigsam meinen Zweikampf mit den Wellen. Als er sah, daß keine Hoffnung war und daß ich nie schwimmen lernen würde, schloß er mich in die Zahl seiner Herzbewohner ein. Sein Herz war in seiner Ganzheit bei uns, dieses sein lustiges Herz, das nirgends hinwollte, nach nichts gierte und keine Unruhe kannte. Mit seinen kupfernen Schultern, dem Kopf eines alternden Gladiators, den rotbraunen, krummen Beinen lag er da zwischen uns auf der Mole. Ich gewann diesen Menschen lieb, wie nur ein hysterischer Junge mit Kopfschmerzen einen Athleten lieben kann. Ich wich nicht von seiner Seite und war bestrebt, ihm dienlich zu sein.

Er sagte zu mir: „Ruhe, Junge, stärke deine Nerven! Das Schwimmen kommt von selbst. Was heißt denn das: Das Wasser trägt mich nicht? Weshalb sollte es nicht?“

Er sah mein Streben. Als einzigen von allen seinen Schülern lud er mich zu sich ein, zeigte mir seine Hunde,

eine Igel, seine Kröte, seine Tauben. Als Entgelt für all den Reichtum brachte ich ihm eine selbstgeschriebene Tragödie.

„Das habe ich mir gedacht, daß du heimlich schreibst“, sagte Nikititsch. „Du hast schon so einen Blick ...“

Er las mein Manuskript, zuckte mit den Achseln, fuhr sich über die grauen Locken, ging in der Dachkammer hin und her. „Könnte meinen“, sagte er gedehnt und schwieg nach jedem Wort, „du hast etwas in dir. Einen Gottesfunken.“

Wir traten auf die Straße. Der Alte blieb stehen, schlug mit dem Stock auf das Pflaster und starrte mich an. „Was dir fehlt... Die Jugend ist kein Unglück, die vergeht mit den Jahren. Was dir fehlt, ist Naturgefühl.“

Er zeigte mit dem Stock nach einem Baum mit rötlichem Stamm und tiefer Krone. „Was ist das für ein Baum?“

Ich wußte es nicht.

„Was wächst an diesem Busch?“

Auch das wußte ich nicht.

Wir gingen durch die Anlagen des Alexanderprospekts. Der Alte zeigte mit dem Stock auf alle Bäume, packte mich an der Schulter, wenn ein Vogel vorbeiflog, und zwang mich, die einzelnen Vogelstimmen zu unterscheiden. „Und welcher Vogel singt jetzt?“

Ich blieb die Antwort schuldig. Wie die Bäume und die Vögel hießen, ihre Einteilung in Arten, wohin die Vögel flogen, von welcher Seite die Sonne aufging, wann der Tau am stärksten war — all das war mir unbekannt.

„Und du unterstehst dich, zu schreiben? Ein Mensch, der nicht wie ein Stein oder ein Tier mitten in der Natur lebt, wird sein Leben lang keine zwei echten Zeilen schreiben können. Deine Landschaftsbilder erinnern an Kulissen. Zum Kuckuck, was haben sich deine Eltern vierzehn Jahre lang gedacht?“

Woran meine Eltern dachten? An protestierte Wechsel, an die Villen des Mischa Elman. Ich sagte es Nikititsch nicht, ich verschwieg es.

Zu Hause am Mittagstisch rührte ich keine Speise an. Naturgefühl, dachte ich. Mein Gott, warum ist es mir nicht früher in den Sinn gekommen? Wo nehme ich einen Menschen her, der mir die Vogelstimmen und die Bäume nennt? Was weiß ich von ihnen? Ich konnte vielleicht den Flieder erkennen, aber nur, wenn er blühte.

Bei Tisch erzählte Vater eine neue Geschichte von Jascha Heifetz. Er hatte beim Kaffee Jaschas Onkel Robin Mendel-sohn getroffen.

„Es heißt, der Junge bekommt jetzt 800 Rubel für jedes Auftreten. Rechnet euch aus, was das bei fünfzehn Konzerten im Monat ausmacht!“

Ich rechnete es mir aus: 12.000 Rubel im Monat. Während ich multiplizierte, blickte ich zum Fenster hinaus. Über den Zement des Hofes kam in einer sich leise bauschenden Pelerine, mit den feurigen Haarigelchen, die unter dem weißen Hut hervorlugten, auf den Spazierstock gestützt, der Herr Sagurski daher, mein Musiklehrer. Man konnte nicht behaupten, er habe sich zu früh meiner erinnert Es waren bereits mehr als drei Monate vergangen, seitdem ich die Geige in den Sand des Meeres hatte fallen lassen. Sagurski näherte sich dem Tor. Ich lief zur Küchentreppe, aber der Ausgang war zum Schutz gegen Diebe seit gestern vermauert. Da war keine Rettung, ich schloß mich im Klosett ein.

Nach einer halben Stunde versammelte sich vor diesem Ort meine ganze Familie. Die Frauen weinten. Bobka, mein Tante, lehnte mit ihren fettigen Schultern an meiner Tür und verging in Schluchzen. Der Vater schwieg. Als er den Mund auftat, sprach er leise und eindringlich, wie nie in seinem Leben.

„Ich bin Offizier“, sagte mein Vater. „Ich besitze ein Gut Ich fahre zur Jagd. Die Bauern zahlen mir Pacht. Meinen Sohn habe ich in die Kadettenschule geschickt. Ich kümmere mich nicht um meinen Sohn.“

Er schwieg. Die Frauen schnauften. Dann donnerte es entsetzlich gegen die Tür. Mein Vater warf sich mit seinem Körper dagegen. Er nahm immer wieder einen Anlauf und stürmte auf sie los.

„Ich bin Offizier“, heulte er. „Ich fahre zur Jagd. Ich töte ihn. Schluß!“

Die Angel riß ab. Die Tür hing nur noch an einem Riegel, nur noch an einem Nagel. Die Frauen kreischten, wälzten

sich auf dem Boden, griffen nach den Beinen meines Vaters, der, toll geworden, loszukommen trachtete.

Die alte Mutter meines Vaters lief herbei. „Mein Sohn“, sprach sie zu ihm auf jiddisch. „Unser Kummer ist groß. Er ist ohne Ufer und ohne Grenzen. Nur noch Blut fehlte in unserm Haus. Ich will nicht Blut sehen in unserem Haus.“

Der Vater stöhnte. Ich hörte seine schlurfenden Schritte, die sich entfernten. Der Riegel hing nicht einmal mehr an einem Nagel.

Ich saß in meiner Festung bis in die Nacht hinein. Als alles schlief, führte mich Tante Bobka zur Großmutter. Der Weg war lang. Der Mondschein erstarrte an dem unbekannten Gebüsch, an den namenlosen Bäumen. Ein unsichtbarer Vogel pfiff einmal und verstummte — vielleicht war er eingeschlafen. Was war das für ein Vogel? Wie hieß er? Gab es Tau auch am Abend? Wo stand der Große Bär? Von welcher Seite her kam die Sonne?

Wir gingen über die Poststraße. Bobka hielt mich fest an der Hand, damit ich nicht fortliefe. Sie hatte recht. Ich

dachte an Flucht Aus dem Bussischen von Joseph Kalmer

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung