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Wundersames Antlitz der Zeit

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Die Erstaufführung des Akademietheaters „Der Schatten”, eine „Märchenkomödie für Erwachsene” von J e w- geni Schwarz, aus dem Russischen übertragen von Ina Tinzmann, bearbeitet von Paul Mochmann, mit der Musik von Hans Totzauer, unter der Regie von Adolf Rott vom Ensemble der Burg kreiert, verdient hohe Beachtung. Wie viele Namen: man merkt sie der Aufführung an. Ein ganzer Geniestab ist hier tätig gewesen, hat an den Szenen und Szenerien, den Apparaturen und Armaturen der großen Zaubermaschine, die hier ins Werk gesetzt wird, gebastelt, gefeilt und gespielt; jede Bewegung der Schauspieler und der Lichter, jedes Wort und jede Geste wurde vielfältig überdacht. Aus den vielen Anstrengungen dieser angestrengt arbeitenden Kräfte ist ein sehr anstrengendes Stück geworden: der Genuß dieser dreistündigen „Märchenkomödie” erfordert mehr Kraftaufwand als der Arbeitseinsatz einer doppelt so langen Arbeitszeit (betreffend Angestelltenzusatzkarte).

Und doch; es lohnt sich.

Das moderne Theater der Gegenwart versucht die Wirrnisse unserer Zeit durch Rückgriff auf große monumentale Gleichnisse zur Form, zur Gestalt, zum Bühnenbild zu zwingen Die Franzosen bevorzugen bekanntlich die „Antike” (Anouilh. Giraudoux, Cocteau), die Amerikaner eine prähistorisch- ungeschichtliche Überzeit (Thornton, Wilder); ein Russe ruft nun, um das Grauen unserer Zeit in., gü’tige Bilder zu bannen, das Märchen zu Hilfe. Mit Recht. Nicht erst die Psychoanalyse, sondern bereits die großen Forscher der Romantik, die Brüder Grimm, ein Görres, Schelling, Bachofen, Creuzer, ahn,ten, ja wußten, daß im Märchen der Völker in konzentriertester, gebundenster Form sich die Erinnerungen an alle Tiefenerlebnisse, Greuel und Schrecknisse menschlicher Frühzeit bergen und verbergen: Blutschuld und Bürgerkrieg, Inzest, Aufstand wider Gott und dei Menschen — erlöst im befreienden Bild, im Wort, im Zäubersang des Märchens. — Weshalb auch heute noch das Märchen eine Lektüre nur für jene Menschen ist, in denen das Grauen der Tiefe, des Urgrunds nachzittert oder wiederauflebt: für Kinder also und sehr reife Menschen.

Im heutigen Rußland sind die Märchen der Brüder Grimm in an die fünfzig Sprachen übersetzt, ihre Auflage beträgt 5 Millionen.

Jewgeni Schwarz stützt sich auf Chamisso und mehr noch auf Andersen. Ein gelehrter Fremdling weilt, zu Gast in Balkanicn — in einem „südlichen monarchistischen Lande” der Lcgen- denerzähler, korruptester Ministerpräsidenten und Finanzminister, „menschenfressender” Polizeiorgane und verlogenster machtdienerischer Revolverjournalisten. Reinstes Märchen, reinste Gegenwart. Der Gelehrte liebt die Prinzessin — diese Kronenträgerin ist Symbol der Krone, der Herrschaft über die Leiter und Seelen des Landes. Er, der gute Mensch, will mit ihrer Hilfe das Land von den Mächten des Bösen befreien. Lind schickt der Prinzessin seinen Schatten: die personifizierte Gier nach Genuß, das Begehren nach unbeschränkter Gewalt, das Böse, das auf dem Grunde jeder Seele lauert. Der Schatten siegt —• und wie furchtbar siegt er … Ob dieser Triumphszenen dės Schattenherren, des Großtyrannen, der kein Gėricht fürchtet, ist allein die Aufführung des Akademietheaters gerechtfertigt, sehens- und bedenkenswert. Wer denunziert, verurteilt, tötet wen? Wer hält sich heute noch an der Futterkrippe des gräßlichen neuen Staatsherrn? — Von panischem Entsetzen gejagt, tanzt die gesamte bürgerliche und nichtbürgerliche hoch- und niedergeborene Gesellschaft dieses Staates einen wahnwitzig schnellen, fiebrig-hektischen Tanz um den Thron des neuen Weltherrschers, im Dreivierteltakt der Angst, des Hungers und der Verzweiflung. Seine Polizei-, seine Propaganda-, seine Finanz-, seine Diktatur- und Korruptionsmaschine wirbelt wie Häcksel, wie Spreu in einer un- und übermenschlichen Häckselmaschine die Menschen durcheinander,, macht sie zu willenlosen Werkzeugen in den dämonischen Klauen des Schattens.

Uns ist keine zeitgenössische Darstellung unseres Zeitgeschehens auf der Bühne bekannt, die mit gleicher Wucht und Symbolkraft den Schrei verzweifelter Angt und Furcht in Bild und Gestalt bannt.

Wer überwindet diese Diktatur und ihren Tanz der Lüge, des Mordes, der bedingungslosen Gewalttätigkeit? Nur der Mensch,’ der keine Furcht vor ihr hat: der dem Schatten zu sagen wagt, daß er nur ein Schatten ist — ein schreckliches Zerrbild gerechter Macht, ein Popanz, der seine Herrschaft auf die Schwäche, Feigheit, Eitelkeit und Selbstsucht einer durch und durch verdorbenen, zersetzten „Gesellschaft” stützt. — Der Gelehrte wagt dies Wort zu sagen, weil ihn die Liebe eines furchtlosen Mädchens trägt — dies Mädchen steht für alle Demut, Erd-, Lebens- und Leidenskraft, die dem „niederen Volk”, dem menu peuple, wie das „alte Frankreich” sagte, seit Jahrtausenden als hohe Gnade zugeeignet ist.

Der böse Zauberkreis der bösen Gewalt zerbricht. Prinzessin und Volk erkennen den Betrug — der Sdiatten verliert seine Macht. Die Menschen schenkep ihm keinen Glauben mehr, weil sie mit eigenen Augen gesehen haben, daß einer seinen Schreckmitteln bis in den Tod widerstanden hat. Der Fremdling, der Gelehrte, der gute Mensch — er hat genug gesehen, erlebt, erlitten: er hat sieh selbst bis auf den Grund, bis in die letzten Herzfalten seiner eigenen Schwächen, kennengelernt. Er wird kein Land, kein Volk, kein Reich reformieren, revolutionieren. Beglückt, das Heil der eigenen Seele gerettet zu haben, verläßt er mit Annunziata. — dem Mädchen des Volkes — Balkanien.

Bedarf es noch eines Hinweises auf dieses Stück, in dem wir einen starken Kimmen- tar zum Geschehnis unserer Zeit sehen?

Im Klassikerzyklus der ö s t e r- reichischen Kulturvereinigung im Konzerthaus liest Albin Skoda Goethe. In einer beachtenswerten Auswahl, welche gedankenschwere Lyrik aus weniger bekannten Werken (Pandora, Mahomet. Entwurf zur Zauberflöte, Die natürliche Tochter) in den Vordergrund stellt. Skoda ist auf dem Wege zu einer echten Verinnerlichung. Sein nervöses Temperament bedarf noch spiritualer Disziplinierung, seelischer Durchformung und Durchklärung, einer echten Weitung des Innenraumes. Dieser Abend — der wiederholt wird — zeigt, wie weit er bereits auf diesem Wege fortgeschritten ist: laute, leer Stellen, schillernd in sehillerischer Pathetik, zeigen die erreichte Grenze an. Es muß diesem Künstler aber gesagt werden: Nicht jedes leise Wort ist tief, in seiner Wurzel gepackt und erfaßt, nicht jede Pause ist von den Spannungen des Unbedingten, des Notwendigen erfüllt. Dies muß gerade Skoda gesagt werden: weil er einer jener wenigen jungen Schauspieler in Österreich ist, welche zu der Hoffnung berechtigen, daß wir, einmal wieder, darstellende Künstler bekommen, welche die wahre Vitalität des Geistes und des Geistigen bezeugen können. Dies ist aber eines der ersten Erfordernisse unserer Zeit, welche an nichts so sehr leidet, wie an der Schwäche des Zeugnisses, das für den Geist abgelegt wird.

Die Stephansspieler bringen ein Lustspiel heraus: „Heimlichkeiten” von Just Scheu und Peter Stiller. Eine sehr biedere Komödie von einem Zahnarzt, der leider auch Dichter ist, diese bedenkliche Tatsache seiner Gattin verheimlichen zu müssen glaubt und es dergestalt auf drei Akte bringt. — So dürftig der Grundstoff — so frisch und lebendig die Auffassung des Spiels durch die Darsteller. Ingeborg Weirich und Elisabeth Stiepl, Karl Schwetter und Romuald Pekny spielen frisch drauf los und reichern die schmale Essenz kräftig an mit Schwung, Elan, Natürlichkeit des Herzens und allseitiger Begabung für die Erfassung jener unfreiwilligen Komik, welche unserem Tageslauf eingesponnen ist — und zumeist nicht von uns selbst, wohl aber von unseren freundlichen Nachbarn erkannt wird. Dies ist überhaupt das Beste und Lobenswerteste an dieser vom Publikum mit Recht beifallsfreudig aufgenommenen Premiere: ein guter Sinn für den. guten Sinn unserer menschliehen Schwächen und Anfälligkeiten, der gelungene Versuch, Humor nicht, wie es immer wieder versucht wird, den Wundstellen des Menschenlebens abzuzapfen, sondern ihn vom Brot und Wein des Alltags herzuleiten, bauend und vertrauend auf eine oft schamhaft verborgene Güte, auf den gesunden Kern der Menschen.

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