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Zimmer mit drei Fenstern

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AM FRÜHEN MORGEN SIND ZÖLLNER arbeitsfreudiger als spätabends. Zwei Männer des Zollstreifendienstes, dessen schnelle Boote die Sehnsucht so manchen Motorsportlers am Bodensee erregt haben, springen mit einem Satz, noch während die Wurfleine durch die Luft fliegt, auf den Kai; ein dritter, der seine Arbeit eben bei der Dampferanlegestelle anzutreten hat, mustert bereits im Anmarsch meinen mit vielen Zetteln beklebten Koffer, der allzusehr aus der Alltagsmasse der Aktentaschen und Einkaufskörbe heraussticht. Was kurz darnach, beim Betreten des Dampfers nach Lindau, den Beamten besonders auffällt, ist die nach dem Öffnen des Koffers erspähte Flasche mit einer klaren Flüssigkeit. Die deutsche Gründlichkeit, Organisation und Logik kann es einfach nicht glauben, daß es einen Menschen gibt, der eine Wasserfahrt antritt und in einer Flasche ebenfalls Wasser mit sich führt.

„Das ist Schnaps“, wird festgestellt. Ich ermuntere den Beamten, eine Probe von besagtem Schnaps zu machen. Sein Gesicht vereist und scheint zu sagen: Jetzt, mitten im Dienst und noch dazu so zeitig früh! Immerhin, der Finger wird an den Rand des Flaschenhalses gelegt und ein Tropfen Naß geleckt. Diese „Flaschenpost“ gab mir den Weg* zollfrei frei. Zum Abschied erzählte ich dem pflichteifrigen Mann von seinem italienischen Kollegen in Görz, der meine Kopfschmerzpulver als Rauschgift deklariert hätte, wäre nicht der Name der Wiener Hofapotheke auf dem kleinen Papier gestanden. „Das ist noch der alte Respekt der Italiener“, sagt der freundliche Alemanne, vonVdem Verwandte, wie sich herausstellt, in der österreichischen k. u. k. Armee gedient haben. *

WER MIT EINEM STAATSRECHTLER auf einem Schiff sitzt, läuft Gefahr, in Paragraphen verstrickt zu werden. Der würdige Mann in den besten Jahren an der Reeling setzt seinen Feldstecher etwas mißmutig ab. Die beste Optik dringt nicht durch den aufkommenden Frühnebel, der über dem Wasser dampft, indes die Möven den Dampfer in engen Kreisen umflattern. „Der ganze Obersee, also die weite Fläche zwischen dem Ausgang des Überlanger Sees und dem Konstanzer Trichter im Westen sowie der Bregenzer Bucht im Osten, ist völkerrechtlich umstritten“.doziert mein Nachbar. „Es gibt nur für einen Teil der Wassergrenzen auch Staatsverträge.“ Er schüttelt bekümmert seinen Kopf und murmelt etwas von einem Territorialprinzip. Ich empfehle ihm, auf alle Prinzipien einen Kognak zu leeren. Wir sind ums bald einig, daß die Probleme der Wassergrenzen zu keinem europäischen Konflikt führen werden. „Ein einziges, großes Zimmer mit drei Fenstern und Seeblick“, sagt da neben uns eine gedämpfte Stimme und meint damit den See und seine Anrainerstaaten. Es ist die des Sohnes jenes Staatsrechtlers. „Da sehen Sie“, sagte der Vater, „die Jugend ist doch noch poetisch.“ Und nach einer kurzen Weile: „Mein Vetter war kürzlich bei der zehnten Hauptversammlung des im Jahre 1902 gegründeten Internationalen Bodensee-Verkehrsvereins. Was er mir da erzählte, wünschte ich gerne für die Viel zimmerwohnung der Europäer: diese Nüchternheit, Vermeidung von Redensarten, dieses Zusammenarbeiten ... Man hat einmal den Bodensee die „Drehscheibe Europas genannt... aber nach dem Beispiel dreht sich bisher leider nichts.“

DER BODENSEE UND SEINE ANRAINER haben ihre Sorgen. Gewiß: das vorige Jahr hat dem Gebiet die bisherige Höchstzahl von 3,6 Millionen Fremden gebracht; aber der Ausländer tritt in allen Uferstaaten stärker als Passant und weniger als Erholungsuchender auf. Es ist daher verständlich, daß der gegenwärtige Vorsitzende des Internationalen Bodensee-Verkehrsvereins, der Bregenzer Bürgermeister Doktor Tizian, gegen alle Beeinträchtigungen der Erholungsmöglichkeiten und der Unversehrtheit der Seelandschaft auftritt — wozu auch ortsfremde Bauten in unzulässiger Höhe gehören. Dinge also, die anderwärts, etwa in Wien, weit weniger Berücksichtigung finden. Bei uns wird man auch schwerlich, wie in Bregenz, die Bevölkerung um ihre Ansicht über eine geplante Seestraße fragen. Die Bodenseeschiffahrt hat sich uneinheitlich entwickelt. Die deutschen und schweizerischen Bundesbahnen haben im Jahre 1959 ebenso wie 1958 und 1957 einen Rückgang zu verzeichnen gehabt; die Österreichische Bundesbahn und die Schweizerische Schiffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein meldeten eine Steigerung der Fahrgastzahlen auf ihren Schiffen. Im Vorjahr wurde die „weiße Flotte' auf dem Bedensee von 4,096.156 Personen benützt. Neben den Sorgen des Fremdenverkehrs — zunehmendes Camping, Widerstreit der Ortsgemeinden in den Fragen, ob das Errichten von Campingplätzen oder neuer Gasthöfe zu fördern sei — daneben machen die Führung von Hochspannungsanlagen, die Anlage von Industrien, die Verunreinigung des Wassers, die Sicherung vor Überschwemmungen (Polde-rung im Rheindelta) genug Kopfzerbrechen. Dazu treten noch verkehrsgeographische Probleme.

TÜRME UND GIEBEL lösen sich aus dem schwachen Dunst. Die Inselstadt Lindau taucht auf. Achtzehn Nobelpreisträger aus sieben Ländern waren heuer zwischen dem 4. und 8. Juli zum zehnten bereits traditionell gewordenen Treffen der Nobelpreisträger gemeldet. Wie man mir erzählte, haben Spenden der Wirtschaft einer beträchtlichen Anzahl von Studenten höherer Semester und von Assistenten an wissenschaftlichen Instituten die Teilnahme an dieser Tagung ermöglicht. Man könnte den Bodenseeraum auch das Konferenzvorzimmer Europas nennen. In den Zimmern selbst, am Genfer See zwischen Genf und Montreux und weiter südlich am Luganer See wird zwar mehr geredet, aber weniger gehandelt. Lindau sinkt eben in silberdurchflammte Schleier zurück, und die Wellen des Heckwassers quirlen eine lange Bahn. Von Sorgen hört man bald wieder in Friedrichshafen, das der Krieg schwer getroffen hat: Sechzig Prozent der Wohngebäude waren völlig, dreißig Prozent teilweise zerstört. Die Stadt Zeppelins und Dorniers hat sich rasch emporgearbeitet, bildet einen handelspolitischen Treffpunkt mit seiner Bodenseemesse. Das Bodenseemuseum hier, das Heimatmuseum in Ravensburg und der Künstlerbund Baden-Württemberg drüben in Konstanz sind Zentren moderner Kunst und ehrwürdiger Tradition, wie Sankt Gallen, das die Tage des Gallus und Otmars aufs trefflichste mit dem tätigen Heute zu verknüpfen wußte. Rorschach, das seine Bevölkerungszahl in achtzig Jahren nur verdoppelte, wejst ganz auf das kaum eine Viertelstunde entfernte' Sankt Gallen hin, wo man schon auf ein halbes Jahrtausend Sprach- und Buchgeschichte zurückblickte, als Bern eben erst besiedelt wurde. Der Bodenseeraum ist daher nicht allein ein Konferenzvorzimmer Europas, sondern viel mehr: eine Ruhmeshalle alter Bücher und Handschriften, deren Glanz eine Welt erleuchtet hat — denken wir nur an die Reichenau. Sehen wir von den nach Karlsruhe gelangten 32 Zentnern Pergamentcodices und Papierhandschriften ab, sind heute rund 55 deutsche, davon 35 außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik liegende Bibliotheken bekannt, die Reichenauer Erbgut verwalten. Von einem Erbe der Geschichte freilich ist fraglich, ob es den zahlreichen Insassen der Straßenkreuzer, die zu feierlichen Prozessionen alr Zuschauer kommen, etwas sagt: das sind die Uniformen der Bürgerwehr, wenn diese mit ihrer Musikkapelle aufzieht. Diese Uniformen stammen nämlich noch aus der österreichischen Zeit der Reichenau ...

DER ERSTE BERÜHMTE GÄRTNER am See war Walahfried Strabo, der Abt der Reichenau (geboren 809). Sein lateinisches Gedicht „De cultura hortorum“ schlug bei seiner Wiederentdeckung vor 450 Jahren durch Joachim von Watt, zeitweiligem Rektor der Wiener Universität, und dem Empfänger Georg Tannstetter in Wien eine Brücke. Ein Garten in wechselnden Farben hegt sinngetreu die Mainau. Aber ein Garten des Geistes ist mit dem Schloß Mainau des Grafen Lennart Bernadette und dem hier befindlichen Internationalen Institut erstanden. Wie wenig man bei den Aufgaben, die einer friedlichen Verständigung der Völker dienen, auf die Kosten schaut, mag ein mir zugekommenes Beispiel lehren: Zu einer Tagung hatten sich drei Teilnehmer angemeldet, die nur französisch sprachen. Für die ganze Veranstaltung mußte ein Dolmetscher verpflichtet werden, der mehr kostete, als die Teilnehmer Gebühren bezahlten. Aber diese Kosten haben sich ohne Zweifel gelohnt. Längst sind von hier aus nicht nur österreichische, deutsche und schweizerische, sondern auch schwedische, dänische, belgische, englische, französische, italienische junge Menschen mit den „europäischen Impulsen“ befaßt, die vom Institut ausgehen. Vielleicht wird einmal von den Kärrnern, die zu einem großen Bau die Steine zusammentragen, rühmlicher geredet werden als von den konferenzfreudigen „Königen“.

IN EINEM KLEINEN DORF auf dem Bodenrück, einer Landzunge zwischen Überlanger und Radolfszeller See, stand ein Gemeinderat vor der Wahl, entweder eine Feuerspritze zu kaufen oder etwas für die Orgel im Budget unterzubringen. Gegen den Einspruch des weltlich-praktischen Bürgermeisters wurde auf Orgelbeitrag erkannt. Kurz darnach brach ein Feuer aus. Der Bürgermeister sagte nur: „So, etzt orglet!“ Aber die Leute um den See besitzen nicht nur herrliche Orgeln von altersher — sie machen damit nicht einmal Orgelfestwochen! Und das sei ihnen hoch angerechnet! Auch den Meersburgern, welche das Andenken der Droste-Hülshoff bewahren und ohne „Son et lumiere“ ausgekommen sind. Bei der Führung im Fürsten-häusle, während die Besucher nachdenklich auf die glitzernde Seefläche hinausblicken, pflegt man zwar eine Schallplatte aufzulegen, die ein Gedicht der Droste, von einer bekannten Schauspielerin gesprochen, durch den schmalen Raum tönen läßt — aber das nimmt man irgendwie hin und mit als Musik dieser Landschaft und vergißt das motorisierte Getriebe unten in Meersburg. Wer es noch stiller haben will, der mag den Friedhof aufsuchen, wo die Droste ruht; wen Düsternis und Unrast bedrängen, dem kommen vor dem Stein, worauf „Ehre dem Herrn“ eingemeißelt steht, die „Letzten Worte“ in den Sinn: „Denn, wo ich weile, dort ist Frieden, dort leuchtet mir ein ew'ger Tag!“

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