Zu nah dran
Miriam Toews erzählt in „Die Aussprache“ von einem wahren Missbrauchsfall, scheitert aber daran, eine Parabel daraus zu stricken.
Miriam Toews erzählt in „Die Aussprache“ von einem wahren Missbrauchsfall, scheitert aber daran, eine Parabel daraus zu stricken.
Diese drei Optionen diskutieren die Frauen von Molotschna, einer entlegenen mennonitischen Kolonie in Bolivien: „1. Nichtstun. 2. Bleiben und kämpfen. 3. Gehen.“ Über Jahre hinweg sind sie von Männern aus der eigenen Gemeinde im Schlaf überfallen, mit einem Narkosespray für Tiere betäubt und vergewaltigt worden. Als sie mit Schmerzen und Verletzungen aufwachen, verwirrt und unwissend, was ihnen widerfahren ist, wirft man ihnen vor zu lügen, sich das ganze eingebildet zu haben oder gar von Satan und Dämonen geschändet worden zu sein. Irgendwann kommt die Wahrheit ans Licht und die Täter werden verhaftet.
Was wie ein dystopischer Plot von Margaret Atwood klingt, ist ein wahrer Fall, der sich zwischen 2005 und 2009 tatsächlich zugetragen hat. Über 100 Frauen und Mädchen wurden Opfer der Vergewaltigungen, die Bischöfe der Gemeinde forderten Vergebung für die „Sünder“ und ließen sie bleiben. Als die Vorfälle nach außen drangen, griffen die bolivianischen Behörden ein, acht Täter erhielten Haftstrafen, Überfälle gab es weiterhin.
Weltabgewandtes Patriarchat
Die Verbrechen sind wahr, der Rat der Frauen hingegen ist erfunden. Die kanadische Autorin Miriam Toews kennt das mennonitische Leben aus eigener Erfahrung. Sie wurde 1964 in Steinbach geboren, einer mennonitischen Gemeinde in Manitoba, die sie mit 18 verließ, um Journalistin zu werden. Die evangelische Freikirche der Mennoniten lebt ähnlich weltabgewandt und unter Zurückweisung zivilisatorischer Annehmlichkeiten wie die Amischen. Es ist ein zutiefst patriarchales System, die Frauen haben kein Mitspracherecht, sind abgeschnitten von jedweder Bildung und so den Männern völlig ausgeliefert.
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