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Zünglein an der Waage

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In der Sprechweise, in der unsere „Unabhängigen“ die politische Debatte zu führen pflegen, vertieft sich eine Auseinandersetzung ihres Salzburger Blattes mit einer Aufzählung der Gegensätzlichkeiten, die gegenwärtig das Verhältnis der beiden Koalitionsparteien unseres Landes stören, Widersprüche Staats- und verfassungsrechtlicher Natur: Bedeutete die Hitlerherrschaft in Österreich nur Okkupation oder war sie Annexion? Sind also die Vorkriegsverträge Österreichs gültig oder ausgelöscht? Müssen die Katholiken den Widerspruch zu ihrer konstitutionellen Freiheit der Religionsübung ertragen, daß sie durch das noch gültige Hitler-Zivilehe-Gesetz verhindert sind, eine kirchliche Ehe einzugehen, wenn nicht das Vorausgehen einer zivilrechtlichen Zeremonie dies gestattet? Was ist es mit der Forderung nach der Sicherung des Elternrechts in der Erziehung ihrer Kinder? — Mit befriedigtem Behagen ergeht sich jene Erörterung in Anhoffnungen der Ergebnisse eines dauernden Konflikts der beiden großen Parteien. Sie kommt zu dem Schlüsse, daß „bei einer solchen Auseinandersetzung das noch unbeschrie- bene VdU-Blatt nicht ohne weiteres zu den Akten genommen werden kann. Wer weiß, ob nicht das Zünglein ah def Waage zur Wirkung kommt...“.

Das ist nicht mißzuverstehen. Zwar geht es in den Fragen, in denen jetzt um einen Ausgleich zwischen den Koalierten gerungen wird, um Grundsätze und nicht etwa um Kommerzware, die kleinen Dinge des öffentlichen Lebens. Aber das Zünglein ist durch kein Gewicht der Probleme bestimmt; es vermag — je nachdem — nach der einen oder andern Seite auszuschlagen. Deshalb beruft man sich auf seine Stellung als „Zünglein“. Man kann so oder auch so. Je nach dem Vorteil, dem .Meistanbot, dem Geschäft. Fünfzehn Stimmen sind zu vergeben...

Die Einladung an die andern ist deutlich und ernst gemeint. Zwar läßt sich darüber streiten, zu welcher der beiden in Frage kommenden Adressen sie am schlechtesten passen würde. Doch ohne Zweifel entspricht die Einladung einem Bedürfnis, die letzte Chance in einer verzweifelten Situation zu nützen. Bisher hat sich die Existenz dieser Partei der nazistischen Epigonen wesentlich in Austritten und Enthüllungen flüchtender Enttäuschter und Rebelliönchen geäußert. Die hundert Jahre österreichischer Parteiengeschichte kennen nur ein einziges Beispiel eines ähnlichen Niederbruchs einer - mit festlichem Böllerschießen eingeleiteten Parteigründung: das Ende der einstigen alldeutschen Schönerer-Partei, die, aus einem Paroxys-mus völkischen Überschwangs in der Zeit der Sprachenkämpfe um die Jahrhundertwende hochgekommen, weniger durch ihre exaltierte politische Einstellung als ihre innere Zerfahrenheit und moralische Brüchigkeit den deutschen

Nationalismus in seine bittersten Enttäuschungen stürzte.

Wie kommt es nur, daß sich irgendwie dieses Trauerspiel innerhalb einer nationalen Bewegung erneuert? Immer schleppt es Akteure und Statisten auf die Bühne, Ehrgeizige, vom Geltungshunger Getriebene, Spieler, starblinde Illusionisten, Träumer, Opfer der Unwissenheit oder einer verbogenen Erziehung, Schuldige und auch Unschuldige. Da sind vor allem jene, die ihre Gesinnung und Lebensrichtung als ein Fatum mittragen, als etwas Hereditäres, dem sich zu entwinden, schon ihre Umgebung sie hindert. Der Großvater war einst auf den Liberalismus eingeschworen. Warum hätte er es nicht sein sollen! Die Schule nicht und allenfalls schon gar nicht die Universität hatte ein anderes ihm gezeigt. Die liberale Partei, Stütze des Staates, führte den Staat, ihre Presse lenkte die öffentliche Meinung; die Wissenschaft und Technik, vor allem die Naturwissenschaften, triumphierten in Entdeckungen und Erfindungen; die herrschenden philosophischen Systeme, noch vom Rationalismus her befruchtet, erhoben die Materie zu gottähnlicher Größe. Der Josephinismus, zu Schlimmerem geworden, als es sein erster Stifter erahnt und gewünscht hatte, tat ein übriges, um das Christentum als eine nebensächliche Einrichtung erscheinen zu lassen, die den Menschen des 19. Jahrhunderts kaum mehr etwas anging; soweit es noch Ansprüche erhob, war es als Klerikalismus zu bekämpfen. — Das war die Mentalität. Sie schlug zu verschiedenen Zeiten verschieden aus, am heftigsten in den Bereichen des alldeutschen Nationalismus und am heftigsten, als ihre Zeit um war, die politisehen Herrschaftsformen des Liberalismus zerbrochen waren, die Wissenschaft schon ihre bisherigen materialistischen Dogmen zu bezweifeln und umzustoßen begonnen hatte, unter Führung großer Päpste die Sozialreform das Vorrecht vor unfruchtbaren Schlagworten und philosophischen Schematismen erhob und in der Literatur Europas ein Völkerfrühlung des vornehmsten christlichen Schaffens anbrach. Welch ungeheure Revision mit dem Fortschritt des 20. Jahrhunderts einsetzte, verpersön-lichte etwa Hermann Bahr, der bewunderte österreichische Literat seiner Zeit, der einstige alldeutsche Burschenschafter, der noch nach Friedrichsruh zu Bismarck gewallfahrtet war und der große österreichische und katholische Bekenner wurde, in dessen Spuren eine neue Dichtergeneration wandelte. Die Veränderungen, die sich in der Umschichtung des christlichen Denkens in der intellektuellen Welt vollzogen haben, in Literatur, Kunst und Wissenschaft, sind i— soviel noch zu tun, mit Arbeit, Opfer-und Bekennermut zu leisten übrigbleibt — so erheblich, daß sie dem rückschauenden Blick außerordentlich erscheinen, wenn schon sie in großen überstaatlichen geistigen Vorgängen einen guten Teil ihrer Erklärung finden.

Die Umstellungen in der geistigen Struktur unseres Jahrhunderts sind bis heute an jenen engen, von vielen Sehendgewordenen verlassenen politischen Quartieren, die noch heute der alldeutschen, im Nazismus erneuerten Ideenwelt verhaftet sind, spurlos vorübergegangen. Sie sind im Weltenlauf mit ihren Vorstellungen allein übriggeblieben, ein seltsames Relikt, das, vereinsamt inmitten der Wirklichkeiten, den Anschluß an die Gegenwart nicht gefunden hat und unzufrieden mit sich und noch unzufriedener mit allen, die seine geistige Vereinsamung nicht teilen, ruhelos im Räume herumgeistert. Doch nun sieht das Relikt eine Chance. Man hört das Wort vom „Zünglein an der

Waage“. Das heißt, daß Partner gesucht werden, denen man zu einer Mehrheit im Parlament verhilft oder zu einer größeren Mehrheit. Wenngleich man diese Partner bisher politisch auf Tod und Leben befehdet hat. Grundsätze tun dabei nichts zur Sache, über die Konzessionen, die der Handel verlangt, wird natürlich zu reden sein.

Die Scheidelinie nach links und rechts ist tief. Spötter und Zyniker sagen der Politik nach, daß sie die Kunst sei, in der jedes Mittel erlaubt sei. Das Urteil des Volkes ist darüber längst geschlossen. Der einfache Mann kann seiner Partei Fehler verzeihen. Er erträgt mit ihr Enttäuschungen und Niederlagen, ohne deshalb irre zu werden. Aber was er nicht verträgt und was die Demokratie nicht verträgt, ist die Händlermoral in der Politik, das Geschäft mit den Grundsätzen. Danach wäre auch eine Manipulation mit dem Zünglein an der Waage in dem besagten Verkaufsladen zu beurteilen. Und darin gibt es doch wohl, wie wir denken und hoffen, zwischen links und rechts keine Differenzen,

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