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Zum Goethe-Bild des letzten Halbjahrhunderts

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Zum Goethe-Bild des letzten Halbjahrhunderts hat ein freundlicher Wind dem Rezensenten zwei wesentliche Bücher auf den Tisch geweht. Das eine stammt von dem Altmeister der USA-Germanistik, Prof. H o h 1 f e 1 d von der University of Wisconsin, Madison, und vereinigt einen Teil seiner im Lauf von 50 Jahren geschriebenen Goethe-Studien. (Fifty Years with Goethe. 1950 bis 1951. Collected Studies by A. R. H o h 1 f e 1 d. The University of Wisconsin Press. Madison 1953. 400 Seiten.) Die Spannweite der Untersuchungen ist imponierend. Sie reicht von philosophischer Fausterklärung bis zu rein philologischen Fragen des Umlauts und Reims in der Goethe-Zeit. Der ethische Anstoß des heißen Werbens um den vielschichtigen Kosmos .Goethe ist das — trotz Enttäuschungen und Weltkatastrophen — unerschütterte Zutrauen, daß das vertiefte Studium auch des Denkers Goethe neben dem Dichter als des bedeutendsten Menschen der letzten Jahrhunderte zu einer dauernden Verständigung zwischen den Völkern beitragen müsse.

Vom gleichen Grundgedanken getragen ist die Darstellung Heinz Kindermanns über das „Goethe-Bild des 20. Jahrhunderts“. (Sammlung „Die Universität“, Nr. 34 Humboldt Verlag, Wien-Stuttgart 1952. 729 Seiten.) Vom Bleigewicht der akademischen Lehrverpflichtung entlastet, hat der Verfasser in den letzten Jahren literarisch und wissenschaftlich eine erstaunliche Fruchtbarkeit entfaltet. Sein neues Goethe-Buch gehört in das Gebiet der von der deutschen Germanistik (zu ihrem eigenen Schaden) sonst wenig gepflegten Philologiegeschichte. Es zeigt den Wandel in der Deutung des Phänomens Goethe, wie sie vom Positivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts über wechselnd metaphysischphilosophische und geistesgeschichtliche Betrachtungsweisen, über „neue Sachlichkeit“ und „magischen Realismus“ bis zum Ueberrealismus und der existentialistischen Weltsicht unserer Tage führte. Kindermann rollt vor dem Betrachter ein reizvolles Bild auf, unter dem zahlreiche Namen von Berühmtheiten der Interpretation stehen. Die zweite Hälfte des Buches führt aus dem deutschen Sprachraum hinaus in den anderer Kulturvölker, entfaltet Goethes Größe sich doch als geheime „Zwiesprache über epochale und nationale Grenzen“. Die Pfeiler, auf denen diese Betrachtung ruht, sind die Goethe-Feiern der Jahre 1932 und 1949; Mittelpunkt ist Goethes Entdeckung des Vorhandenseins einer Weltliteratur.

Im ganzen berichtet Kindermann, wie er verrät, über rund 1800 Autoren aus 23 Nationen. Dabei müssen die — unüberschreitbaren — Grenzen

referierender Betrachtung notwendig sichtbar werden. Obwohl der Verfasser aus einem gleichsam bodenlosen Zettelkasten Daten in ungeheurer Menge auszubreiten und geschickt zu verbinden versteht, vermag er die Fülle der Erscheinungen nicht auszuschöpfen und setzt, wie der Referent aus der stichwortweisen Nachprüfung ihm besonders geläufiger Sachgebiete feststellt, die Wertungsakzente nicht immer mit letzter Sicherheit. Indessen war sich der Unmöglichkeit, eine so reiche Ernte voll in die Scheuern zu bringen, keiner besser bewußt als der Verfasser selbst. Die Seiten 726 f. geben darüber überzeugend Aufschluß. Wir müssen ihm dankbar sein, daß er den Versuch gewagt und durch seine umfassende Darstellung der von Goethe ausgehenden Weltwirkungen einen erwünschten Beitrag zur Zusammenführung von Menschen und Völkern im Geist goethescher Menschlichkeit geleistet hat.

Univ.-Prof. Dr. Karl Kurt Klein

In einer Stunde wie dieser. Von Jürgen Rausch. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1953, 439 Seiten. Preis 12.80 DM.

Jürgen Rausch (geb. 1910), der sich durch seine Prosadichtung „Nachtwanderung“ und eine Abhandlung über Ernst Jünger in Deutschland bereits einen guten Namen geschaffen hat, ist bei uns noch wenig bekannt. Er veröffentlicht nun sein Tagebuch, das er als Soldat gegen Ende des letzten Krieges geführt hat. Er setzt mit der Flucht aus Venedig im April 1945 ein und schließt 1947 mit der Rückkehr in die Heimat. Dazwischen liegen der Aufenthalt mit Kameraden in einer Berghütte Südtirols und das Leben in den Gefangenenlagern Italiens. Menschen, Landschaften und Zustände werden sehr knapp und präzis geschildert, kleine Episoden erhellen die seelischen Auswirkungen des großen Zusammenbruchs. Wichtig ist aber vor allem die innere Auseinandersetzung des Autors mit den Ereignissen, sein Bemühen um die Erkenntnis ihres Sinnes und um Selbsterkenntnis. Dem Buch setzt er als Motto ein Zitat aus Melville voran: „In einer Stunde wie dieser.. ., wenn des abgekämpften Menschen Seele ganz auf Erkenntnis angewiesen ist...“ Die Aufzeichnungen enthalten eine Fülle sehr wesentlicher und ins Zentrum der Probleme dringender Betrachtungen. Selbsterkenntnis kann man, wie der Autor feststellt, nicht allein durch Nachdenken über sich selbst erreichen, sondern vor allem durch das Tun. Die Plastik der Darstellung, die Schärfe der Beobachtung und nicht zuletzt die

Prägnanz der sprachlichen Mittel machen das Werk zu einem der bemerkenswertesten Bücher, die aus dem Erleben der Kriegsgefangenschaft hervorgegangen sind. Es bezeugt, wie hier ein geistiger Mensch, ein Dichter, in einer bestimmten Situation äußerer und innerer Gefährdung sein Leben auf neue Grundlagen der Erkenntnis stellt.

Dr. Theo Trümmer

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Vergeltung durch Engel. Erzählungen von Ellen D e 1 p. Verlag Karl Alber, Freiburg-München, 240 Seiten, Ganzleinen, Preis 8.80 DM.

Rilke war es, der Ellen Delp als „junge Schwester“ bezeichnete, als er aus ihren Briefen ihre starke Begabung erkannte. Und tatsächlich sind die Erzählungen, die zeitlos wirken, auch wenn sie in jüngster Vergangenheit spielen, von einer dichterischen Kraft und Tiefe, von einer Reinheit der Sprache, die sie zum festen Bestand der deutschen Prosa machen. Der poetischen Prosa — denn der „Blumenkorb“, zum Beispiel, klingt wie ein in Prosa gehaltenes Gedicht; zart in der Umschreibung, tief im Gefühl und wunderbar im Ausdruck. „Im Angesicht des Sommers“, das im Stubaital spielt und in kargen Worten das kleine und doch ergreifende Schicksal einer alten Bäuerin berichtet, kann als Mustererzählung bezeichnet werden. Die „Demütige“ ist eine psychologische Studie von schlagender Kraft, in der auch die Lichter des Humors nicht fehlen; am erschütterndsten aber wirkt wohl die Erzählung, die dem Band den Namen gibt, die Geschichte von der entarteten Tochter, die um materieller Güter willen die Eltern in höchster Not verläßt und ihren Tod verschuldet und so die Rache der Engel selbst auf sich lädt. In dieser Erzählung wird die besondere Begabung der Dichterin, künstlerische, weitaus-

schwingende Schilderung mit geradezu quälender Spannung zu verbinden, am deutlichsten.

Dr. Grete Steinbock •

Effingers. Roman von Gabriele T e r g i t. Hammerich & Lesser Verlag G. m. b. H., Hamburg. 738 Seiten.

Gabriele Tergit, die sich mit „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ bereits als Talent eingeführt hat, gibt in ihrem Berliner Roman „Effin-gers“ ein umfängliches Mosaikbild, das siebzig Jahre der Weltenwende darstellt, 1878 bis 1948. •Zwei jüdische Familien, die eine in Berlin erbeingesessen, die andere aus einer stillen süddeutschen Kleinstadt, verkörpern mit einer Fülle kontrastierender Gestalten Bankwesen und Industrie und den Wandel der Lebensformen vom jungen Bismarck-Reich über den lärmenden Wilhelm und die Weimarer Republik bis Hitler und bis zum apokalyptischen Ende einer Weltstadt.

In dieser großen Chronik läßt sich die Ueber-fülle der Figuren (soweit sie den beiden miteinander verschwägerten Familien angehören, durch eine Stammtafel für den Leser entwirrt) von der Dichterin nur mit Mühe bändigen. In knappen, spritzigen Dialogen und in aphoristischen Kurzszenen kämpft die Tergit gewandt gegen die Gefahren des breiten Stoffes. Die beiden Familien, deren Judentum zumeist nur, wenn es angefeindet wird, deutlich in Erscheinung tritt, stehen als Paradigmen für zähen Aufstieg und industrielle Blüte, für Bürgertum im Gegensatz zum Proletariat, für Reichtum der Jahrhundertwende, für die Art der Kunstbetrachtung und für die leicht schwankenden Moralbegriffe der fließenden Zeit. Viel Milieumalerei erhöht den Reiz des außerordentlichen Buches.

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