6640806-1957_44_07.jpg
Digital In Arbeit

Zuviel Zeit?

Werbung
Werbung
Werbung

So weit haben wir es nun gebracht, daß der Sonntag der langweiligste Tag der Woche ist. Wir streben zwar immer auf ihn zu, weil wir auch nicht gern arbeiten, weil wir die Müdigkeit in den Knochen und Seelenwinkeln fürchten. Wenn der Sonntag, der Feiertag, der Ferientag aber dann da ist, so wissen wir nicht, was wir anfangen sollen. Schon der Anfang, der Beginn dieser Tage ist schwierig. Meistens wacht man früher auf als an den Werktagen — und man hätte doch gerade jetzt Zeit — Zeit zum Schlafen, Zeit zu — nichts! Das ist es ja gerade, daß wir den Sonn- und Feiertag fürchten: wir haben plötzlich Zeit. Was sollen wir damit anfangen? Wie sollen wir ihn zu Ende bringen, ohne Schaden zu leiden? Die Speisekarte der Vergnügungen werden uns in den Zeitungen angeboten. Die Unternehmer von Autobusfahrten, Sportveranstaltungen, Tingeltangel, Theater und Kino profitieren von unserer einfallslosen, hilflosen Sonntäglichkeit. Sonntags kann man sich religiös, sportlich, vergnüglich beschäftigen —ihr Arbeitspensum zu bezeichnen, denn das Normale, das Positive war sogar den Römern das Nichtstun, die Feier, das Fest, die Muße, das Privatleben — deren Beraubung die Arbeit war, die Beschäftigung und der Betrieb.

Die Samstagausgabe der Zeitungen ist ein erschlagender Beweis für unsere Unmenschlichkeit: die umfangreiche Nummer gibt Lesestoff für solche unter uns, die nicht selbst sich ein Buch aussuchen können; sie bringt Gedichte für solche, die keine Dichter kennen; sie bringt Rätselecken für solche, die die Zeit totschlagen wollen; sie bringt vor allem Anzeigen der diversen Vergnügungsmöglichkeiten vom Tanz bis zum Sautanz wie man in Oesterreich ein Schlachtfestessen nennt!, vom Sportprogramm bis zur Gottesdienstordnung; Museen und Nachtlokale, Alpenverein und Pingpongverband alles, was das Herz nicht begehrt, aber nach Ansicht und Absicht der Inserenten begehrenswert sein wollte, wird Ihnen vorgeschlagen. Bitte, wählen Sie! — Hatte Ihr Großvater nicht eine man kann sich beschäftigen lassen durch Veranstalter und Veranstaltungen, durch Verabredungen und Verlegenheitsunternehmungen. Aber das alles ist Beschäftigung, ist ein loses, leeres Geschäft, wird langsam, aber sicher zur langweilenden Geschaftelhuberei — bis endlich diese Sonn- und Feiertage zu Ende sind und man aufatmend zur Arbeit zurückkehren kann —, um auf den Sonn- und Feiertag zu warten. Und dann — geht die Misere von vorn an.

Daran scheiden sich die Nationen, Rassen, Völker und Geister: ist der Beruf für das Leben oder das Leben für den Beruf da? Die Antworten sind verschieden, aber zu guter Letzt bleibt allen Zeitgenossen das Zeithaben die darüberliegende Frage. Selbst wenn uns die Arbeit ein Lebensmittel und nicht einen Lebenssinn bedeutet, stellt sich die Frage, was machen wir, wenn wir das Leben haben? Wenn wir das Mittel ausgenützt, um daraus das Leben zu gewinnen? Leben selbst als Inhalt, Sinn und Zweck des Lebens — das ist das Schwierigste. Leben, Da-sein, im lebendigen Da-sein erfüllt und ausgefüllt zu sein, keine Beschäftigung zu brauchen, keinen Zeitvertreib und keinen Betrieb nötig zu haben — wer kann das noch? Ruhe, Stille, Muße; negotium nannten die welterobernden Römer ihre Arbeit, ihre Pflichten — Nicht-Muße, Nicht- Privatleben. Sie verwendeten eine Negation, um Briefmarkensammlung? Mein Gott, wie langweilig? Hatte Ihre Großtante nicht eine bedeutende Sammlung von gehäkelten Deckchen? Mein Gott, wie altmodisch! Hatten Sie in Ihrer Jugend nicht die Theaterleidenschaft und Ihr Bruder sammelte Bücher, so viel er deren habhaft werden konnte mit den Ersparnissen seines Taschengeldes? Ach, das waren Jugend Verirrungen und Schwärmereien! Aber ich will Ihnen etwas sagen: hätten Sie eine dieser Leidenschaften, dieser kindlichen, altmodischen, langweiligen, und Sie wären wieder "ein glücklicher Mensch, der keine Zeitung brauchte, um sich über den Sonn- und Feiertag hinwegzuschwindeln. Sie sind einfach unfähig geworden, sich für etwas zu begeistern. Sie haben kein Hobby wie man das heute ausdrückt. Vielleicht könnten Sie noch ein „hobby“ haben — aber nur weil es englisch klingt und deshalb etwas sein muß —, könnten Sie auch sich mit etwas Spielerischem, Unnützem, Zwecklosem, Unnötigem, mit einer wirklichen Liebhaberei abgeben? Ach, lauter Fachleute in allen Sparten im Sportlichen, im Kirchenleben, im Künstlerischen, aber keine Dilettanten, keine Liebhaber. Früher gab es Sonntagsjäger, bespöttelte Dilettanten. Es gab sie aber und sie waren mit allem Jägerlatein sehr glücklich. Heute: es gibt fast nur Sonntagsjäger, Jäger, die nur noch am Sonntag zeit haben, auf die Jagd zu gehen und ihrer Passion fachmännisch nachzugehen. Das ist doch seltsam und gar nicht normal! Ich will Sie gar nicht zum Briefmarkensammeln und zum Strickzeug überreden, nur zum Hobby, zu irgendeinem Einfall, einem ausgefallenen Einfall, der Sie unterhält, Ihnen Spaß macht, Sie interessiert ohne alle fachmännische Eitelkeit. Aber es darf keine Imitation sein. Es darf nichts sein, was gerade snobistisch in Mode ist. Es muß Ihr Hobby sein, es muß Ihr eigenstes Vergnügen sein, selbstverständlich auch dann, wenn viele dieses gleiche interessierte Vergnügen haben sollten wie Sie selbst. Daß viele etwas tun, ist kein Beweis, daß es vulgär oder in Mode ist; daß wenige Menschen etwas tun oder gar keiner, ist noch kein Beweis, daß es originell ist. Was wir tun und erfinden, muß uns, unserer Art, unserer Laune, unserer Intelligenz, unserer Vergnüglichkeit entsprechen und muß uns Freude machen. Uns: jedem einzelnen und jedem einzelnen ganz besonders und kolossal!

Denken Sie daran, daß derzeit Bestrebungen im Gange sind, den ganzen Samstag den Gewerbetreibenden und Arbeitenden frei von Arbeit und Gewerbe zu geben. Sie werden eines Tages zwei Tage frei haben. Also in jeder Woche werden Sie zwei freie Tage haben. Haben Sie einen Garten? Haben Sie ein Hobby? Es wird fürchterlich enden mit Ihnen, wenn Sie nichts dergleichen haben! Bedenken Sie Ihre Not, Ihre Pein, Ihre Verzweiflung ja buchstäblich: Verzweiflung!, wenn diese Vierzigstundenwoche eingerichtet wird. Der Staat wird das einrichten zu Ihren Gunsten, aber was werden Sie, Arbeitsloser aus Vergünstigung. damit anfangen, daß Sie nicht arbeiten müssen? Werden Sie diese Großzügigkeit des Staatsunternehmens verstehen? Werden Sie dies bestehen? Ich bezweifle das. weil Sie verzweifelt sind — schon jetzt — über die Sonn- und Feiertage der jetzigen Ordnung.

Was nun? Was tun? Wir haben zuviel Zeit und wissen nicht, was wir damit anfangen, wie wir sie beenden sollen. Das steht fest. Wer meint, keine Zeit zu haben, ist am ärmsten: der betrügt sich sogar mit der nüchternen Tatsache des 7eith?hons. Der hat bereits die Managerkrankheit. Wir heben Zeit! Wirklich: wir haben viel zuviel Zeit. Das ist unser Problem.

Ich wüßte ein Heilmittel: wenn es für Sie selbst schon zu spät sein sollte — seien Sie barmherzig wenigstens für Ihre Kinder. Sie können Ihre Kinder nur vor dieser Fangfrage verschonen, wenn Sie geradezu unbarmherzig Ihre Kinder zum Schweigen und zur Einsamkeit erziehen. Seien Sie barmherzig, indem Sie unbarmherzig darauf dringen, die Kinder wenigstens zur Einsamkeit und zum Schweigen zu bringen. Dann wird den Kindern — wenigstens — etwas einfallen. Etwas, das größer, nutzloser, zweckloser ist als alles gemußte Leben. Wenn Sie selbst es schon nicht mehr können — lassen Sie Ihren Nachkommen die Chance. Seien Sie hart. Diese Härte wird zum Segen werden, von dem Sie selbst vielleicht einmal profitieren können. — Oder wollen Sie es auch noch einmal probieren? Dann schweigen Sie. Schweigen Sie viel und gründlich! Schweigen Sie viel und so lange, bis Sie meinen, stumm zu sein. Eines Tages wird Ihnen ein Hobby einfallen können. Es wird Ihnen einfallen, was Sie mit dem Sonn- und Feiertag machen werden. Sie werden sich vorbereiten für das fürchterliche Schicksal, sowohl am Samstag wie am Sonntag vor sich selbst und allein und ohne Arbeit zu sein!

Snobistisch wie wir Zeitgenossen sind, sprechen wir von einem Job, den wir haben. Job meint Beschäftigung. Wir meinen damit Arbeit, Verdienst, Lebensmöglichkeit, Lebensmittel. Job ist auch, wenn einer zum gutverdienenden Verbrecher wird. Wenn der Sohn des Multimillionärs sich an die Spitze einer Verbrecherbande stellt, um nur etwas zu tun zu haben, um nur ein Hobby in einen Job zu verwandeln. Ist das nicht beängstigend? Ist das nicht grotesk? Aber so geht es uns, seit wir nicht mehr den Rhythmus der Schöpfung kennen: sechs zu eins: sechs Tage der Arbeit und ein Tag der Ruhe. Wir verwandeln den siebenten Tag in eine neue Un-Ruhe, in neue Betriebe und Geschäfte, anstatt endlich nach sechs Tagen nichts zu tun, Ueberflüssiges zu tun, Nutzloses zu lieben und Dilettanten zu sein. Liegt es an unseren Vätern? Haben diese uns falsch erzogen? Haben Sie uns eine zerstörte Welt und Erde und Stadt hinterlassen, die wir selbst aufbauen mußten? Liegt es daran, daß wir alle nicht durch das Viele auf das Eine, durch das Vielfältige auf das Einfältige kamen? Liegt es daran, daß wir die Kinderschuhe auszogen, um kindliche Stiefel anzulegen, die uns nicht paßten? Wer will wem die Schuld zuschieben? Jedenfalls: wir vermögen nicht zu leben. Aber wir, jeder von uns, muß leben, jeder muß sein Leben, sein eigenstes, unwiederholbares Leben leben. Also müssen wir, jeder für sich selbst, sein Hobby, seinen Ueber- fluß. finden. Jeder muß still, einsam, langsam, schweigsam werden, damit er das finde, was ihm und ihm allein auf den Leib geschrieben gefällt: Jeder muß seinen Sonn-, jeder muß seinen Feiertag finden: die Sonne, die Feier, das Fest, das jedem von uns zukommt. Damit das Leben groß werde und des Lebens wert. — Ich warne Sie vor Imitationen und vor Konfektionsware! Was wichtig ist, wäre der Sinn für das Spiel!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung