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Zweierlei Existenzialismus

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DER SINN UND DAS ABSURDE. Von Andrė Es pi au de la Maestre. Otto-Müller-Verlag, Salzburg 1961. 412 Seiten.

Das Buch des Professors am Wiener Institut Franęais, Andrė Espiau de la Maestre, verdient weithin große Beachtung und aufrichtige Hochachtung. Das eine, weil es die erste deutschsprachige Darstellung des französischen Existentialismus ist, die ihn aus der eigenen nationalen Sicht betrachtet; das andere wegen der völligen Unbefangenheit, mit der hier Tatsachen berichtet und Urteile gefällt werden, nicht zuletzt aber ob der erstaunlichen Leichtigkeit, mit der ein im deutschen Sprachraum Fremder sich in einem ihm erst verhält- nismäßig spät zum Bildungserlebnis gewordenen Idiom auszudrücken weiß.

Der Autor schildert den französischen Existentialismus in dessen dichterischer Verkörperung; von den Berufsphilosophen wie Gabriel Marcel ist nur nebenhin die Rede. Als Trägergestalten hier der christlichen, katholischen, dort der atheistischen Denkensart sind einerseits Paul Claudel und Charles Pėguy, dann Andrė Malraux, Albert Camus und Jean-Paul Sartre aus- gewählt worden. Georges Bernanos, der gemäß einem aufs Literarisch-Weltan- schauliche angewandten Proporz die fromme Dreiheit hätte vollzählig machen sollen, ist einer besonderen Schrift Vorbehalten worden, weil sonst der Band zu umfänglich geworden wäre. Schade darum; er wäre in „Der Sinn und das Absurde” sehr am Ort gewesen.

Will man diese Untersuchung gerecht würdigen, dann heißt es sich vergegenwärtigen. daß sie, aus Einzelvorträgen entstanden, hernach zum Ganzen zusammengeschmiedet worden ist. Daraus erklärt sich eine gewisse Ungleichmäßigkeit in Anlage und Umfang der sechs Kapitel (den fünf über je einen Dichter reiht sich eine Gegenüberstellung von Christentum und atheistischem Humanismus an). Sehr gerechtfertigt ist die zentrale Bedeutung, die schon raummäßig Paul Claudel gewährt wird. Er verschiebt das Gewicht zugunsten der gläubigen Wegebereiter der heutigen französischen Literatur. Denn als Wortkünstler, als Poeten kommt ihm keiner der Gegenspieler gleich. Auch nicht der große Prosaschriftsteller Andrė Malraux. Der ist zwar, nach unserer Ansicht, der gewaltigst ; Erzähle]-, und, der zugleich glänzendste wie, .tiefste,’ Vertreter’des Essays und der wissenschaftlichen Prosa seiner Nation in dieser Zeit, doch Claudel hat eben den unvergleich lichen lyrischen Schwung, einen elan vital, der seinen großen Oden und seinen nicht minder großen Dramen — den fünf Fassungen der schließlich zur „Annonce faite ä Marie” gewordenen „Jeune Fille Violaine”, dem „Echange”, dem „Partage du Midi”, der Trilogie von „L’Otage”, „Le Pain dur”, „Le Pėrė humiliė” und dem „Soulier de Satin” — Unsterblichkeit verleiht. Immerhin sind Malraux’ Romane — „La Condition humaine”, „La Voie Royale”, „Le Temps de Mepris”, „L’Espoir” und „Les Noyers d’AItenburg” die den bahnbrechenden „Conquerants” folgten, eine fruchtbare Erneuerung einer literarischen Gattung, die im Abstieg und im Verflachen schien. Und seine „Psychologie de l’Art”, sein „Musėe imagi- naire de la Sculpture moderne” sind sowohl maßgebliches als auch weithin maßgebendes Zeugnis der Kunstbetrachtung einer nach neuen „ewigen” Werten suchenden Epoche.

De la Maestre hat ausdrücklich betont, daß er das Absurde und den Sinn nicht bis aufs Gebiet der eigentlichen Philosophie verfolgt, das er nur bei be- grüßenswürdigen Grenzüberschreitungen betritt, daß er diese Widerparte im Bereich des Dichtens und des nicht-zunft- mäßigen Denkens betrachtet. Darum lenken wir auch das Augenmerk zunächst auf die Gestalt und dann erst auf den Gehalt dessen, das uns von den fünf Großen des existentialistischen Schrifttums der Franzosen beschert worden ist. Wie sehr wir nun hier Pėguy, dort Camus bewundern und die werbetüchtige Begabung Sartres zugestehen: ihr Rang in der Literatur ist nicht der gleiche wie in der allgemeinen Geistesgeschichte. Daran gestatten des Verfassers Ausführungen keinen Zweifel. Er legt aber, seines Verzichts auf eine rein philosophische Beleuchtung des Stoffes ungeachtet, dennoch den Hauptakzent aufs Weltanschauliche, und zwar, was wir als besonderes Verdienst anerkennen, nicht nur und nicht so sehr auf das der Fünf, als auf deren aus dem Unterbewußtsein, aus der Seelenhaltung einerseits der Zeit, anderseits des jeweiligen Milieus quellende Denkensart.

Daftritt. fas p emeinsame, das die Zeitgenossen eines gewaltigen Umbruchs über den klaffenden Abgrund miteinander unvereinbarer entscheidender Voraussetzun gen, spiritualistischer Dualismus oder monistischer Materialismus, verbindet, ebenso klar hervor, wie der unüberbrückbare Gegensatz, der sie in anderer Hinsicht voneinander trennt. Das Streben, ein ,,hors Serie”, ein außerordentlicher Mensch, zu sein und im scheinbaren Gegensatz dazu die Vermassung, der Kult des kleinen Mannes, erscheinen hüben und drüben, bei Kirchenfrommcn und Kirchenfreien. Da wie dort ehrt man den Helden, den Heiligen, die beide für die bürgerliche Gesellschaft verschrobene Wirrköpfe waren. Die Solidarität aller Erdgeborenen wird verkündet. Indem ein jeder sein, unter dem Aspekt der Vergänglichkeit stets tragisches, Schicksal hinnimmt und es in dieser Zeitlichkeit durch die Leistung überwindet, besiegt er auch die Angst, die uns lebenslang begleitet. Gefährdet, verurteilt zum vivere pericolo- samente, hineingeschleudert in die Existenz, wird dem Sterblichen trotzdem innere Genugtuung beschieden.

Doch in wessen Namen, warum sollen wir über die vom Selbsterhaltungstrieb gebotene Leistung hinausgehen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Der Existentialismus christlicher Färbung kann Tugend, Opfer, Menschenliebe, Humanität nur unter Bezug auf Gott begreifen; er wird, gleich jeder anderen religiösen Weltanschauung, die Sinnlosigkeit, die Sinnwidrigkeit, die Unbillen und die Un- billigkeit unseres irdischen Daseins einzig durch das Walten einer höheren Gerechtigkeit aufheben, die für das alles eine Kompensation gewährt: man leide um

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Gottes willen, in Erwartung eines Lohnes im Jenseits. Die prometheisch stolzen Gottesleugner — die darum keine Gottesfeinde sein müssen, weil sie ein für sie nicht Existierendes nicht bekämpfen und die also keineswegs wie Nietzsche über den Tod Gottes jubeln, weil Er, nach ihrer Ansicht, nie gelebt hatte —, sie schöpfen den Ansporn, den Gewissenszwang zu einem den Selbsterhaltungstrieb überschreitenden Tun aus hochmütiger und hochgemuter Lust am unbelohnten Handeln (so wäre Gidės „acte gratuit” zu übersetzen). Ihr „engagement” (zu Deutsch: Verpflichtetsein) wurzelt in

Selbstvergottung oder, ganz einfach, im spielerischen, herausfordernden „bon plai- sir” eines großen Herrn, einer großen Dame. Mag dabei im Ergebnis oft das gleiche herauskommen, so ist es dennoch nicht dasselbe.

Innerhalb des französischen Existentialismus stoßen wir noch auf andere Gezweiungen als die durch das Verhältnis zum Gottesglauben bedingte. Pėguy, Camus, Sartre stehen politisch links; Claudel und, seit der Bindung an de Gaulle, Malraux rechts. Claudel und Pėguy waren von jeher Patrioten alten Stils, für die es an der Recht mäßigkeit des französischen Standpunkts niemals ein Rütteln gab. Malraux und Camus haben vom Internationalismus her auf scheinbar krummen und doch so geraden Wegen zu einem Nationalgefühl gefunden, das bei dem einen die sittliche Basis für die Wirksamkeit auf hohem, verantwortlichem Staatsposten bildet, beim ändern kurz vor dessen tragischen Tod ein Bekenntnis zum französischen Algerien diktierte. Sartre ist, auch nach seinem (unechten) Bruch mit dem Moskauer Kommunismus, Kosmopolit oder, wenn man will, „ein vaterlandloser Geselle”, nun meinetwegen, ein vaterlandloser Meister — mais quel mauvais maitre! — geblieben.

Claudel wird mit viel Verständnis für dessen menschliche Schwächen und für die auf ihm lastende unfrohe Atmosphäre seiner Familie als der dem Willen nach glühende und überzeugte Katholik gezeichnet, der er war, nicht minder als der sehr große — unseres Erachtens: der größte — französische Dichter seit den drei Leitgestirnen des Symbolismus Maliarme, Verlaine, Rimbaud. Für Pėguy entbrennt der Verfasser in heißer Liebe, die ihn hellsehend macht für die verborgensten Herrlichkeiten und ihn erfreulicherweise gegenüber manchen Schattenseiten Pėguys nicht verblendet.

Mit ähnlicher, über die weltanschaulichen Mauern hinwegreichender Zuneigung bedenkt de la Maestre Camus, den zu früh und noch nicht ganz Vollendeten, die reinste und edelste Gestalt des atheistischen Humanismus, Un bon payen, ein „guter Heide” war dieser, eine anima naturaliter christiana, eine ihrer Natur nach christliche Seele. Es muß aber im Interesse der Wahrheit gesagt werden, wie das de la Maestre getan hat, daß Camus in keiner Weise für den Katholizismus in Anspruch genommen werden kann; daß er dem „postulatorischen Atheismus” bis zuletzt verhaftet war. Zu Malraux scheint der Autor den rechten inneren Zugang nicht zu gewinnen. Um so mehr ist zu loben, daß er dennoch die wesentlichen Umrisse dieses wundersam anziehenden und abstoßenden bedeutenden Ausnahmemenschen richtig erschaut. Näheres Eingehen auf Malraux’ Biographie, deren Wichtigkeit für die Erkenntnis des Werkes mit Fug hervorgehoben wird, wäre allerdings erwünscht gewesen.

Stärksten Beifall schulden wir dem Autor für seinen hervorragenden Abschnitt über Sartre. In artigen Worten wird hier das gesagt, was man in grobem Deutsch etwa folgendermaßen Vorbringen könnte: das zwar sehr begabte, doch noch mehr überschätzte Idol einer um ihre Ideale betrogenen Jugend, eine, sit venia verbo, Kreuzung aus Kaffeehausliterat und Gymnasialprofessor, Demagog und

Elfenbeinturmbewohner, ein Brechmittel im doppelten Un-Sinn des Wortes, nämlich etwas, das zum Erbrechen ob der Schnöde dieser Welt aufreizt und dessen Gesamtwerk an sich den sublimiertesten Brechreiz darstellt, hat in einander unablässig ablösenden neuen und immer neueren Wellen, in einer nouvelle vague nach der anderen, aus sich die Beckett, Robbe-Grillet, Butor und den von ihm kanonisierten Widerling Genet ausgeschieden. De la Maestre erhebt seine Stimme dawider. Er zetert nicht, er legt nur dar. Und er bemüht sich, anderseits das Große, das Edle und das Schöne zu würdigen, wo immer er ihm begegnet. Er hebt das Gemeinsame hervor, ohne unauslöschbare Gegensätze zu verwischen. So danken wir ihm für ein mutiges, kenntnisreiches, Erkenntnisse in Fülle verbreitendes Werk.

Universitätsprofessor Dr. Otto Forst de Battaglia

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