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Zwillinge und ein Schizophrener

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Goldoni hatte bei einem beliebten Schauspieler, der in seinen Stücken auftrat, zwei gegensätzliche physio- gnomische Züge bemerkt, einmal munter lebendige, dann wieder einfältig schwerfällige. Das brachte ihn auf den Einfall, diesen Schauspieler im selben Stück zwei Figuren entgegengesetzten Charakters, aber gleichen Aussehens spielen zu lassen, also Zwillinge, die sieh äußerlich nicht unterscheiden. So entstand die Komödie „Die venezianischen Zwillinge“, die derzeit das Theater in der Josefstadt vorführt.

Die Voraussetzung, daß Zwillinge bei voller Gleichheit des Aussehens — „eineiige“ Zwillinge — kraß verschiedenen Wesens sein können, mag nicht stimmen, aber diese Annahme gibt dem Komödienautor einen vorzüglichen Absprung, die turbulentesten Verwechslungen in Szene zu setzen. Allerdings bietet Goldoni reichlich primitive Situationen, sie ändern sich jedoch unentwegt, überraschend, amüsant. Eine staunenswerte Erfindungskraft etabliert auf der Bühne den Gegenpol zum heutigen oftmals aktionsarmen, ja aktionslosen Theater. Das hat für uns mancherlei Reiz.

Dies um so mehr, wenn die Komödie wirbelig inszeniert wird, was im Theater in der Josefstadt dem Regisseur Dietrich Haugk durchaus gelingt. Roman Weyl hat auf der Drehbühne ein Übereinander südlicher Bauten errichtet, wodurch sich den Darstellern die Möglichkeit bietet, von der Liebe — oder von der Angst vor ihr — gejagt, hinauf- und hinunterzufegen, hin- und herzurennen. Was dem Stück an Durchbildung der Charak- tere, an Innerlichkeit fehlt, wird durch Bewegung ersetzt. Auf die Überspitzung des Grundeinfalls, daß die Brüder zu sehr „menschlichem“ Zweck mehrfach, unmittelbar nacheinander, ein Schilderhaus aufsuchen, ohne sich zu treffen, muß verzichtet werden. Für das Schilderhaus bleibt kein Platz.

Es ist begreiflich, daß die Faszination .nur etwa bis zur Pause reicht. Da sich die beiden Brüder nie begegnen dürfen, bleibt Goldoni schließlich nichts anderes übrig als einen von ihnen, den tölpischen, sterben zu lassen. Und er ist stolz auf diese Lösung in einer Komödie, denn „über die lächerliche Art, in der dieser Unglückliche stirbt“, schreibt ėr, „wälzten“ sich die Zuschauer vor Lachen. Wir wälzen uns aber nicht, der schwarze Humor von 1747 ist nicht der schwarze Humor von 1966, mag Haugk auch in dieser Szene den Theaterhimmel blitzen und donnern lassen. Maximilian Schell unterscheidet den bäurisch- tölpischen Bruder aus Bergamo von dem Weltmännischen vorwiegend durch äußere Mittel, durch Haltung,

Gestik, ersetzt Gewandtheit gegen Schwerfälligkeit, Schweizer Dialekt gegen Hochdeutsch und läßt so erkennen, daß die beiden letztlich doch Brüder sind. Ursula Schult als Beatriče und Marianne Chappuis als Rosauna bieten zwei reizvoll verschiedene Ausprägungen des amüsant Weiblichen. Gute Typen zeichnen die übrigen Darsteller.

Eineiige Zwillinge verdoppeln die Einmaligkeit der Person. Die Schizophrenie spaltet sie. Gottfried Benn hat, gleich anderen Autoren vordem, beinahe erschreckend aufgezeigt, wie unter den geistig Großen immer wieder Schizophrene, Paranoiker und Paralytiker, Säufer und Selbstmörder zu finden sind.

Der Pole Stanislaw Witkiewicz, der in vielen seiner Bühnenwerke entscheidende Züge der heutigen Dramatik vorweggenommen hat, führt in dem Stück „Narr und Nonne“ — entstanden 1923 — einen 28jährigen Lyriker von Ruf, Wal- purg, vor, der sich seit zwei Jahren wegen dementia praecox in der Tobsuchtszelle eines Irrenhauses befindet. Ihn quält die Vorstellung, möglicherweise den Tod der Frau, die ihm alles bedeutete, verursacht zu haben. Aber weder das Liebes- erlebnis mit der ihn betreuenden Nonne befreit ihn von dieser Krankheit, noch heilen ihn die Psychiater. Erst als er einen der Ärzte in einer Aufwallung unbegründeter Eifersucht tötet, weicht der Wahn. Er hat den Arzt mit seiner, Walpurgs gehaßter Zwillingsschwester „identifiziert“. Er erhängt sich mit dem Ruf: „Ihr psychischen Mörder!“

Doch das genügt Witkiewicz nicht, er treibt das Stück vom Realistischen ips farcenhaft Irreale, um seinen Angriff noch zu überhöhen. Die Toten treten mit den Lebenden wieder auf, zwei Psychiater gehen zur Chirurgie über, die Zurück- bleibenden wälzen sich mit dem „schlimmsten Irren“, dem Psychoanalytiker, in einer Prügelei am Boden. Damit ist die Psychiatrie vom Autor unter Hohngelächter ad absurdum geführt. Doch wirkt das Stück keineswegs \ absurd, man könnte es einen psychisch fundierten Sketch nennen, wobei die Steigerung zur profilierten Farce das einst Zukunftsträchtige und nunmehr Heutige erweist.

In der wirksamen Wiedergabe — im Ateliertheater am Naschmarkt — durch den jungen polnischeh Regisseur Jan Biczycki, der den Angriff gegen die Psychiatrie etwas entschärft, fällt Hans Walter Klein in der Rolle des Walpurg durch besondere Begabung auf. Rosemarie Müller setzt die Gestalt der Nonne gut an. Adolf Smalix löst das Bühnenbild als optisches Symbol.

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