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Zwischen Faszination und Horror

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Kaum eine der jüngsten deutschen Neuerscheinungen hat die Kritiker so in Bewegung gebracht wie Günther Grass' erster Roman, „Die Blcchtrommel“. Ein außergewöhnliches Erzähltalent wird dem jungen Autor allgemein bescheinigt. Aber dann Scheiden sich die Geister. Einige Rezensenten lassen sich von Grass' stilistischer Begabung so faszinieren, daß sie alles schlucken — teils mit Bewunderung und Emphase! —, was dieser seinem Leser an Verzerrungen und abstrusen Scheußlichkeiten anbietet; die anderen stellen sich auf den Standpunkt, daß literarisches Können noch kein Freibrief dafür ist, so mit Gott, der ' Welt und dem Menschen umzugehen, wie Grass es—• mit Genuß und hämischem Vergnügen — tut. Günther Blöcker, sicher einer der bedeutendsten und verläßlichsten deutschen Kritiker der zeitgenössischen Literatur, spricht von einer „totalen Existenzkarikatur“, einem „konsequent antihumanen Klima“ in dem Buch; und das trifft den Nagel auf den Kopf.

„Die Blechtrommel“ ist die Geschichte des Oskar Mazerath, die dieser in einer Heil- und Pflege anstalt, in der er schließlich und endlich gelandet ist, selbst niederschreibt. Der monströse „Held“ erblickt das Licht der Welt in Danzig, und seine erste bemerkenswerte Tat ist, daß er im Alter von drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen, um so der heillosen Welt der Erwachsenen auszuweichen. Aber dieser freiwillige Liliputaner ist beileibe kein unbefangenes, einfältiges Kind, sondern ein Kretin, ein pathologischer Zwerg, der auf seinen diversen Blechtrommeln seine zynischen Kommentare zum Zeitgeschehen liefert.

Man muß zugeben, daß Grass einen durchdringenden Blick hat für menschliche Schwächen und dunkle Situationen. Die scheinheilig-verdorbene Welt des Kleinbürgertums enthüllt er mit der gleichen Sicherheit, mit der ihm die Entdämonisie-rung des Nazismus gelingt, eine seiner besten Leistungen übrigens. Da bleibt nichts von „Glanz und Größe“ des braunen Ungeistes, wie ihn manche sogenannten „Entlarvungen“ insgeheim kultivieren. Die ganze muffige Schäbigkeit des Systems und seiner Träger, wird offenbar und damit' dem Respekt jede Grundläge entzogen. Man denkt an Brechts Ausspruch, daß die Verüber großer politischer Verbrechen noch längst keine großen politischen Verbrecher seien und man den falschen Nimbus am besten zerstört, wenn man sie der Lächerlichkeit preisgibt. Gerade das gelingt Günther Grass ausgezeichnet Ein glänzender Einfall etwa, wenn er Oskar bei einer Nazikundgebung sich unter der Tribüne verstecken läßt, von wo er dann mit seiner Trommelei die offiziellen Musikan.en so aus dem Konzept bringt, daß sie schließlich in seine Walzer- und Charlestonrhythmen einfallen, und alle Teilnehmer der Versammlung zu tanzen beginnen.

Gewöhnlich aber sind Oskars Einfälle weniger vergnüglich. Eines seiner Lieblingsverstecke ist unter den Röcken seiner kaschubischen Großmutter. „Wer gibt mir den Geruch jener gelblich zerfließenden, leicht ranzigen Butter, die meine Großmutter mir zur Kost, unter den Röcken stapelte, beherbergte, ablagerte und mir einst zuteilte, damit sie mir anschlug, damit ich Geschmack fand“, sinniert er in seiner Anstalt. Oder das Oskarchen beobachtet, unter dem Tisch und manchmal im Kleiderkasten sitzend — angewidert und angezogen zugleich —, das sexuelle Treiben der Erwachsenen; ein Gebiet, auf dem . der ungeratene Knirps später selbst mit allerlei abnormen Widerwärtigkeiten aufwarten kann. Grass ergeht sich geradezu mit Wollust in der detaillierten Beschreibung von abstoßenden Perversitäten jeder Art.

Es offenbart sich durchgehend ein Hang zum Obszönen, zum Ekligen und Entarteten. Dazu haarsträubende Blasphemien auch im religiösen Bereich, Grass läßt einfach nichts unangetastet. Aus der

Perspektive des Kretins, der sich in die Rolle des Übermenschen hineinsteigert, wird unsere ganze Wirklichkeit pervertiert. Das hat mit legitimer und sinnvoller Zeitkritik wahrhaftig nichts mehr zu tun.

Man fragt sich, wie ein solches Buch zu seinem erstaunlichen Erfolg kommen konnte. Es wurde zunächst von der Gruppe 47 preisgekrönt, und der Verlag kündigt an. daß zahlreiche Übersetzungen in Vorbereitung sind. Nun, wir erwähnten schon, Günther Grass beherrscht das Metier des Schreibens virtuos. Er kann halt noch etwas anderes, als die Leute schockieren und provozieren. — Der Ab-gesang des Freistaates Danzig, in dem Deutsche, Polen und Kaschuben vor der Naziinvasion einträchtig und einander befruchtend zusammenlebten, ist hinreißend und herzbeklemmend. Hier erweist Grass als ein ßhroiwt, in dessen realistischen Schilderungen zugleich das Hintergründige der Wirklichkeit transparent wird. Wie er zeitgeschichtliche Phänomene in ihrer Vielschichtigkeit in den Blick rückt, mag ein Zitat erweisen:

„Neuerdings sucht man das Land der Polen mit Krediten, mit der Leica, mit dem Kompaß, mit Radar, Wünschelruten und Delegierten, mit Humanismus, Oppositionsführern und Trachten einmottenden Landsmannschaften. Während man hierzulande das Land der Polen mit der Seele sucht — halb mit Chopin, halb mit Revanche im Herzen —-, während sie hier die erste bis zur vierten Teilung verwerfen und die fünfte Teilung Polens schon planen, während sie mit Air France nach Warschau fliegen und an jener Stelle bedauernd ein Kränzchen niederlegen, wo einst das Ghetto stand, während man von hier aus das Land der Polen mit Raketen suchen wird, .sucht Oskar' Polen auf seiner Trommel und trommelt: Verloren, noch nicht verloren, schon wieder verloren, an wen verloren, bald verloren, bereits verloren, Polen verloren, alles verloren, noch ist Polen nicht verloren.“ Das trifft und kommt an in seiner geradezu faszinierenden Schnoddrigkeit. Schade, daß Grass sein großes Talent verzettelt hat; daß er seinen zynischen Nihilismus mit allzuviel Lust und Liebe kultiviert und somit alles nur noch durch diese Brille, hinter verzerrenden Scheuklappen, zu sehen vermag. Wir sind gespannt, wohin die Entwicklung bei ihm gehen wird, und hoffen, daß die positiven Möglichkeiten und Fähigkeiten dieses jungen Autors schließlich doch die Oberhand gewinnen werden.

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