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Zwischen Galeere und Caritaszentrale

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J£ einem, der sich mehr schlecht als recht bemüht, sein kleines Tagwerk wenn schon nicht unter das Gesetz der Caritas zu stellen, so doch zumindest dafür zu sorgen, daß es dem Hauptgebot des Christentums nicht allzu kraß widerstreitet, wird die quälende Konfliktfrage fremd sein: Was wichtiger sei, das Nächste am gerade begegnenden Nächsten zu tun oder, dem durchdachten, überlegten Plan gehorchend, dem eigenen Werk eine größere Wirkungskraft zu sichern. Was ist etwa für den Caritasdirektor im täglich wiederkehrenden Entscheidungsfall vordringlicher: daß die seit langem vorbereitete, mit den zuständigen Experten vereinbarte Arbeitskonferenz über langfristige Maßnahmen der Flüchtlingshilfe ungestört durch Telephonate und Bittsteller verläuft oder aber, daß der vielleicht gerade zu dieser ungelegenen Stunde anläutende Bittsteller wenigstens für einige Minuten den Menschen zu sehen bekommt, den er mehr noch vielleicht als die materielle Gabe gesucht hat. Mit der wörtlichen Berufung auf das Evangelium vom barmherzigen Samaritan ist es allein nicht getan. Auch der zu einer solchen Arbeitsbesprechung eilende „Priester und Levit“ muß heute vielleicht „vorübergehen“, muß zumindest darauf verzichten, auf seinem Gang nach rechts und links zu schauen. Wer heute in der Caritas — dies natürlich im weitesten Sinn verstanden — steht, muß diese Zerrissenheit ertragen. Er steht in der Mitte zwischen der heiligen Elisabeth, die die Wunden der Aussätzigen küßte und mit eigener Hand für die Armen spann, und dem modernen Administrationschef eines weltumspannenden Hilfswerkes, der von seinem Schreibtisch aus Impfstoff nach Sumatra, Care-Pakete nach dem Kongo und Unterrichtsbücher an die Missionäre von Grönland zu dirigieren hat und der diese Arbeit nur bewältigen kann, wenn er statt morgendlicher Geißelung ein paar Turnübungen macht und statt dem Pilgerstab den Dienstwagen benützt.

Keiner, der nicht ein Snob oder Pharisäer ist, wird es wagen, ein Urteil über die Gottgefälligkeit des einen oder des anderen zu fällen. Auch der, der heute noch die unmittelbare Nachfolge der klassischen Caritasheiligen antreten will, muß, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, innehalten und sich fragen, ob dies wirklich noch ausreichen kann Mit Erschütterung vernahm die Welt vor Jahr und Tag einen Bericht karitativer Frauenverbände aus der Schweiz, die einmütig feststellten, in ihrem Lande gäbe es zur Zeit keine so himmelschreiende Not, daß sie den Einsatz von Kräften forderte, die irgendwo auf der Welt dringender gebraucht würden. Zur Zeit, als Elisabeth Wolle webte, Ludwig der Heilige die rituell vorgeschriebene Anzahl von Armen bewirtete und die römischen Kaiser im hohen Dom die Füße wuschen und den allso Geehrten Goldmünzen überreichten, verreckten Tausende von Leibeigenen in Ställen, verschmachteten namenlose Seeräubersklaven auf den Galeeren, verkamen Hunderte in den Narrentürmen.

Die anderen aber, die auf die geplante, überlegte und organisierte Liebestat setzen, die ihr Handeln unter das Gesetz der gottverschenkten, gottgesegneten Ratio, unter die Gott wohlgefällige und durch die Tugendlehre gutgeheißene

Oekonomia stellen wollen ... Kennen nicht auch sie den Würgegriff entsetzlich trockener und verzweifelter Stunden, da sich ihnen alle Menschen zu Ziffern und Additionsposten verwandeln, da sie nicht einmal „tönendes Erz und klingende Schelle“ vernehmen, sondern nur noch das Rasseln der Apparatur?

Dieser den Menschen zerreißende Zwiespalt ist zwar in unserer Zeit, die nach einem Wort von Hannah Arendt nicht einmal mehr den Homo faber, sondern nur noch das ganz bejammernswerte, von Gott scheinbar völlig verlassene „Animal Iaborans“, das werkelnde Lebewesen, als Grundtyp hervorgebracht hat, besonders grell sichtbar geworden. Er ist aber in seiner Wurzel jahrhundertealt. Dort, wo die verhängnisvolle Zwiegabelung der Nächstenliebe in unserer europäischen Welt zum ersten Male erkennbar wurde, an der Schwelle der Neuen Zeit, steht Vinzenz von Paul. Wer sich grübelnd und selbstprüfend den Ursprüngen nähert, wird ihm begegnen, ihm werden sich die Züge dieses Mannes, befreit von Devotionalfarben, enthüllen. Vinzenz ist kein über dem Irdischen thronender Lehrer der Weisheit und Gerechtigkeit, er ist kein seraphischer Liebesbote im Stile Guido Renis. er ist — recht besehen — uns heute deswegen so nahe geblieben, ja immer näher gerückt, weil er den eingangs geschilderten Konflikt bis ans Lebensende in sich selbst getragen hat. Er hat kein moraltheologisches Konzept hinterlassen, das eine Lösung dieses Zwiespalts geben könnte. Er hat gerade diese Zerrissenheit tapfer und demütig ausgetragen, seine Askese und Frömmigkeit als ein immer wieder erneuertes Gottbefohlensein aufgefaßt, das man fälschlich als Passivität auslegte.

Das Frankreich seiner Zeit durchlebte seine Entwicklung von der mittelalterlich-feudalen Anarchie zum gepflegten Zentral- und Obiig-keitsstaat Es durchmaß da Jahrhundert von der Bartholomäusnacht bis zu Ludwig XIV. als eine historische Wegstrecke unbeschreiblicher Trostlosigkeit. Die mittelalterlichen Gestade waren am Horizont versunken, als Vinzenz 1581 zu Pouy in Südwestfrankreich geboren wurde. Mit einem Zynismus, der den der deutschen Fürsten und der gleichzeitigen englischen Regenten noch um einiges übertraf, halten die letzten Valois seit Franz I. das christliche Fundament des Staatswesens zerstört. Die Bande der Sicherungen, die den Menschen der Alten Welt — König wie Bettler, Grundherren und Bauern — trotz aller Rauheit und Härte noch in der Kommunität des Staates des Allerchristlichsten Königs gehalten hatten, waren radikaler als irgendwo anders in Europa zerrissen. Aber noch zeichneten sich die Konturen der neuen Küste nicht ab: die Neue Welt des absolutistischen Bürokraten-und Wohlfahrtsstaates, den Richelieu und die Bourbonen der französischen Revolution als im wesentlichen unverändert übernommenes Gebäude vorgeformt hatten. Der Mensch war nicht mehr das unendlich wichtige, mit Standesehre (die auch dem Bettler, dem Henker, der Dirne zukam) ausgestattete Einzelwesen des Mittelalters, aber er war auch nicht der zu versorgende, zu reglementierende, zu verwaltende •Staatsbürger Nummer“ % der er bald werden sollte. Frankreich war nicht mehr das Gotteslehen des zu Reims Gesalbten, aber es war noch nicht der vernünftige, seiner Räson gehorchende moderne Staat, den Richelieu und vor ihm schon Heinrich IV. konzipieren sollte. Der Mensch drohte jn den Strudeln der Zeit unterzugehen, zu verrotten in der faulen Korruption der versinkenden Valois-Ära, verbraucht und verschrottet zu werden in der anbrechenden Zeit der Massenplanung und Massenstrategie.

Vinzenz von Paul stand in beiden Epochen. Er war der Sohn des zum Roman gewordenen Mittelalters, als er noch einmal aufbrach zu abenteuerlicher Seefahrt und den an den „Roman der Rose“ wie an den Don Quijote gemahnenden grausig-phantastischen Gang in die tunesische Sklaverei antrat, er war ein rechter Monsieur und Monseigneur, nicht nur, als er in jungen Jahren nach klerikalen und höfischen Ehrenstellen „brannte“, sondern auch später, als er als Großalmosenier des Königs eine Standesperson von Gravität darstellte. Für ihn blieb, soweit wir das seinen Selbstzeugriissen entnehmen können, das Liebesgebot die große, klassische Du-Beziehung, die die Caritas des Mittelalters gekennzeichnet hatte. Zugleich aber war er der erste, der die Begrenztheit solchen Tuns in einer neuen Zeit erkannte, dem das mit der Intuition des religiösen Genies aufging, was die fleißigen Skribenten später das soziale Problem nennen sollten. Er sah seine Zeit, die aus den gesellschaftlichen Fugen geraten war, nicht mehr mit dem Sentimentalen Blick dessen, der sich tatenlos und jammernd nach den alten Ordnungen sehnt und sich durch solche selbstbespiegelnde Poesie der nüchternen Arbeit für das Heute und Morgen entbunden wähnt. Er sah, daß Sträflings- und Prostituiertenfürsorge nicht mehr allein vom einzelnen bewältigt werden konnte, daß es der Arbeit am Milieu bedürfte, er sah aber vor allem die Askese einer neuen Caritas. Nicht mehr die bis zur genußvollen Übersteigerung der eigenen Persönlichkeit ausgekostete Fülle von Bußwerken und Ver-demütigungen, nicht mehr das tränenüberströmte Küssen der Schwären wurde für ihn zum Ordensideal. Er stellte seine Ordensgemeinschaften der „Barmherzigen“ in kühnem Entwurf bereits in die neue, erst in den Konturen erahnbare Zeit. In einem Zeitalter, das den einzelnen namenlos machte, mußte auch die Liebe namenlos werden, mußte Caritas einhergehen mit dem bewußten Verzicht auf dekorative Selbstdarstel-

lung. Die schlichte, im Dienst an den „vielen“ aufgehende Vinzenz-Schwester wurde das katholische Gegenbild zur theologischen Attitüde der hocharistokratischen Stiftsdame des zur gleichen Zeit aufblühenden französischen Jansenismus.

In seinem Leben, das gerade deswegen, weil es sich bis ins kleinste hinein von Gott, dem Großen Seigneur, formen ließ, zum vollendeten Kunstwerk wurde, ist der Zwiespalt, den er demütig austrug, die immer wiederkehrende Frage nach dem gebotenen Tun im Jetzt und Hier, geheimnisvoll zu polyphoner Einheit überwunden und verklärt. Wie sein jüngerer Zeitgenosse Leibniz noch einmal Weisheit der Alten Zeit und organisierte Wissenschaft der neuen Epoche zu barocker Einheit zu verbinden wußte, rundet sich in Vinzenz von Paul noch einmal ein Kosmos. Der kleine Abb£ mit dem kindlich-gottver-trauenden Herzen, der freiwillig neben dem Galeerensträfling angekettete Christbruder ist zugleich auch mit der Glorie des Ordensgründers, des barock-mächtigen Schöpfers und Organisators gekrönt. Und so steht er in unserer Zeit: vertrauter Heiliger der in der Dürre des trottenden, hoffnungslosen Alltags zcrmürHen barmherzigen Schwester, stiller Beistand des in sein Elend verkrochenen verschämten Armen, verständnisvollster Bruder all derer, die als „hoffnungslose Fälle“ zwischen sämtlichen Stühlen sitzen, Nothelfer aller derer, die bis in ihre Nächte hinein von SOS-Rufen verfolgt werden, zugleich aber auch mächtig-imperialer Beistand der großen weltumspannenden Hilfswerke, erhabener Patron der von seinen Impulsen getragenen Caritasbewegungen mit all ihren Hochhäusern, Telephonzentralen, Proviantflugzeugen, Massenausspeisungen, die er, Großalmosenier und Monseigneur, mit großer und machtvoller Geste für alle Zeiten gesalbt, geweiht und gesegnet hat.

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