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Zwischen Gestern und Morgen

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Es ist ein Zeichen der Weltkirche, daß viele ihrer Werke von der „Welt“ nicht gesehen, nicht beachtet werden. Man spricht von ihnen nur, wenn man irgendwo Anstoß nimmt, ihre Zeugen werden nur erwähnt, wenn man sie machtmäßig, politisch „verwerten“ zu können glaubt.

Es ist ein Zeichen der Kirche Österreichs, daß im Ausland und Inland heute noch viele nicht wissen, daß nahezu alles, was heute in der kirchlichen Welt als fortschrittliches Unternehmen gilt, hier, und oft schon vor drei oder vier Jahrzehnten, als praktischer und denkerischer Versuch gewagt wurde.

Es ist zum Dritten ein Zeichen der Amtsperiode des Wiener Oberhirten, der am 25. Dezember 1950 75 Jahre alt wird, daß diese in ihrem kirchengeschichtlichen epochalen Charakter von den Spähern des Außen und Innen zumeist nicht einmal gesehen, geschweige denn als solche erkannt wird.

Das Zerstörungswerk der vorvergangenen Zeit, die Erosion der österreichischen Kirche durch josephinische Aufklärung, Rationalismus und Sentimentalismus, Staatskirchentum und Verflechtung in die politische Struktur des alten Reiches ist oft geschildert worden, seine verheerenden Ergebnisse sind bekannt. Wie aber begann in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg praktisch der Neubau?

Die unbedankte Kleinarbeit kleiner Ka-plane und Pfarrherren; zahlreiche Neuansätze und Versuche. Der vielumfeindete Wagemut älterer und junger Priester. Verlacht wird die liturgische Bewegung, umstritten eine katholische Jugendbewegung, aufs schärfste bekämpft der Versuch, in den sozialistischen Raum missionarisch vorzustoßen.

Herzensträgheit, Haß und „gute, alte Gewohnheiten“. Die Kirche, zumal der Wiener Diözese, ragt mit ihren Positionen von gestern immer mehr in ein Vakuum hinein. Wird die junge Saat, wie leider so oft in der Kirchengeschichte — man lese da jetzt H. Jedins SJ. ersten Band der Geschichte des Tridentiner Konzils nach, die Vorgeschichte — erstickt, ausgetreten werden, oder wird ihr liebevolle Pflege, oberhirtliche Weisung, und verständnisvolle Betreuung?

Das letztere ist geschehen. Das ist die Tat des am 25. Dezember 1875 im Haus Nr. 362 in Weipert-Neugeschrei als Arbeiterkind geborenen Theodor Innitzer. Der Knabe hat die Ziegen gehütet und beim „Plöckeln“, als Hilfsarbeiter in der Steckschen Fabrik, im Lebens- und Leidensweg der Eltern, Armut und Arbeit, Geduld und Dienen gelernt. Der Mann hat die Liebe und Geduld, das Arbeiten und Tragenkönnen geübt. Er wurde und blieb: ein Mann des Volkes, den „Kleinen“ und den Kindern zugetan, fremd in der Welt der „Großen“, der Machtherren, aber offen, feinhörig für das Wachsende, für die Saat, die in der Stille, im verborgenen wächst.

Nun aber wartete die große Stadt. Was geschieht, was wird?

Das sind die äußeren Fakten dieser kirchengeschichtlichen Epoche. Zum ersten Male werden, endlich, die großen Pfarren (mit teilweise 70.000 Seelen) zerteilt. Achtundsechzig Pfarren werden neu geschaffen. Das sind um fünfzehn mehr als in der ganzen Zeit von Kaiser Joseph II. bis zu dieser Stunde! Neue Kirchen entstehen. Unter ihnen die modernen auf der Krim, in Mauer und Floridsdorf. Die im letzten

Krieg zerstörten werden neu aufgebaut beziehungsweise restauriert. Der Stephansdom erhebt sich aus seinen Ruinen. Das äußere Bauen ist aber nicht das Wesentliche. Auf das innere kommt es an.

Seelsorge, Seelsorge, Seelsorge. Die neuen Pfarren, dazu eine neue Dekanatseinteilung sollen sie erleichtern. Visitationen sollen sie betreuen — auf sie legten die großen Reformer der Kirche in vergangenen Jahrhunderten den allergrößten Wert. Der Kardinal ist unermüdlich auf seinen Visitationsfahrten, die ohne Beispiel in der Geschichte der Wiener Diözese dastehen. Bis zu acht Predigten fallen dann auf einen Tag ... Als sein „Generalstab“, als „seine Sache“, wie er es am zweiten Tag nach seiner Designierung nennt, arbeitet das Seelsorgeinstitut, das immer mehr zum Seelsorgeamt wird. Eine Institution, die, zunächst erst- und einmalig, bald in Europa von 3 5 Diözesen nachgeahmt wird. Das ist nichts weniger als der erste umfassende Versuch, die Probleme der Zeit und der Großstadt systematisch, geistig, seelisch und praktisch aufzuarbeiten. Seine Hauptreferate und Dienststellen verdienen es, genannt zu werden: Exerzitien, Religiöse

Kultur, Liturgische Erneuerung, Bibelarbeit, Unionsfragen, Seelsorgehilfe, Religiöses Schrifttum, Dorfkultur, Statistik; Familien-, Männer-, Frauen- und Jugendseelsorge. Kinderseelsorge (ein Hauptanliegen des Kardinals: jedes Jahr widmet er den Eltern, ihren Sorgen und Pflichten einen eigenen Hirtenbrief). Da sind die Sondergruppen: Hochschul- und Mittel-schulseelsorge, Wandernde Kirche (ein Unikat lange Zeit in Europa). Konvertiten-, Kranken-, Nüchternheitsseel-sorge, Blindenapostolat. Da sind Dienststellen: die Trinkerfürsorge, die Diözesanbild-stelle, die Auslandsdeutschenstelle, die Seelsorgliche Aushilfe. Aus diesem Raum heraus entwickeln sich Institutionen wie das Laienjahr, die theologischen Fernkurse, das Frauenseminar in Stetten (die Pfarrhelferinnenschule), mit ihm in Verbindung steht das Interdiözesane Priester-bildungsinstitut St. Gabriel. Die schulischen Belange werden zusammengefaßt im erzbischöflichen Schulamt.

Die Betreuung der Kinder, der Jugend, des Volkes in neuen zeitangepaßten Formen, das ist das Erste und Wesentliche der neuen Ära, deren Signum die stille, bauende Arbeit an der erstmaligen Bewältigung ungeheuer großer Aufgaben ist. Begonnen wird also mit der Arbeit an den Kindern. Untermauert wird die neue Seelsorge durch die Hochschul- und Akademikerbetreuung. Die Studenten, in ihren leiblichen Sorgen (Studentenheim, Akademikerhilfe) und ihren seelischen Nöten; für sie letztlich schafft der Kardinal als sein Herzanliegen 1946 die Katholische Akademie, die durch eine lebendige Zusammenfassung von Forschung und Lehre ein Zentrum geistiger Orientierung bilden soll. Der Mann, der 1928 Rektor magnificus der Wiener Universität war, der im letzten Kriege noch eine Neuauflage der „Leidensgeschichte nach den Evangelien“ erarbeitete, weiß um die Schwierigkeiten christlicher Neuansätze im österreichischen Geistesleben.

Geschaffen wird, nicht zuletzt, die Katholische Aktion (1935, 1945).

Hier muß von einer Eigentümlichkeit seines Wirkens und seiner Epoche gesprochen werden. Der Wiener Oberhirte läßt seinen Mitarbeitern die größte Freiheit bei ihrem Planen und Schaffen. Nur so war es möglich, daß in seiner Diözese heute eine echte innere Vielfältigkeit von Werken sich ausbreiten konnte, deren Bereiche sich vom „Film“ und der „Kultur“ bis zur ökumenischen Arbeit erstrecken. Andererseits nimmt der Oberhirte, sehr schlicht und sehr präzis, wichtige Anliegen als persönliche auf: da steht neben dem ökumenischen, seinem starken ostkirchlichen Interesse, sein wacher Sinn für das Liturgischej bespöttelt las er kurz nach dem ersten Weltkrieg bereits liturgisch neugestaltete Messen in der Herz-Jesu-Kirche— und dieser sein persönlicher Einsatz war immer dort zu finden, wo Unpo-pularität bei den Machtherren, ja Gefahr zu ernten waren. Es soll nicht nur seiner Intervention für die Verurteilten der Februar- und Juli-Ereignisse des Jahres 1934 gedacht werden, sondern der immer noch kaum der Öffentlichkeit bekannten Tatsache, daß er in seinem Hause, im erzbischöflichen Palais, in den Jahren der Verfolgung, unter seiner unmittelbaren Obhut eine Hilfsstelle für Juden einrichtete, die Tausenden geholfen hat.

Von all dem spricht man nicht. Ihm selbst liegt wenig daran, daß davon gesprochen wird. Wenn der Kardinal heute auf seine Diözese blickt, die so viele große und ungelöste Probleme birgt, in Stadt und Land, die beide vereint, wenn er den Mangel an Priestern, die Not der Laien sieht, die Wechselfälle des Schicksals auch überblickt, dann geht er hinaus zu seinem Volk, das sehr wohl weiß, wie sehr ihm sein ganzer redlicher Sinn gehört; und daß es mit ihm ist: im Tragen, in der Geduld des Dienens, in der Mühe der Arbeit zwischen Gestern und Morgen.

Der Weg einer Diöese der Weltkirche mitten durch diese Zeit.

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