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Digital In Arbeit

Zwischen Himmel und Hölle

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Von Februar bis Juni 1962 hatten wir auf Grund einer Vortragsreise über Arbeit für christliche Erneuerung die Möglichkeit, Kolumbien, Peru, Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien zu besuchen und die Situation der mehr als 100 Millionen Einwohner Lateinamerikas näher kennenzulernen. Was wir gesehen und erlebt haben, ist von solchem Ernst, daß wir uns nicht nur entschlossen haben, unsere Kräfte für einen längeren Zeitabschnitt in den Dienst dieser Länder zu stellen, so wir die hierzu erforderlichen Mittel finden, sondern wir glauben darüber hinaus, an unsere Kirchenführer und all jene, die mittragen an der geistigen Verantwortung für unsere Zeit, in aller Offenheit das berichten zu müssen, was wir auf diesem Kontinent erlebten. Wir sind katholische Laien, die ihr Leben in den Dienst des Friedens Christi gestellt haben. Seit mehreren Jahren arbeiten wir im Westen wie im Osten. Versuchen wir durch unsere Arbeit Christus zu dienen, so auch unserer Kirche. . Weil wir diesen Christus, diese Kirche über alles lieben, gehört es zu unserer Verantwortung, ihr das mitzuteilen, was Gott uns durch diesen Aufenthalt erkennen ließ. Dieser Bericht will trotz mancher Härte seiner Aussage nicht anklagen; er ist vielmehr ein Appell, das Problem in seinem ganzen Ausmaß zu erkennen und darnach zu handeln.

Die Last der Vergangenheit

„Vielleicht wäre es besser für uns, durch die Läuterung einer kommunistischen Verfolgung zu gehen, als weiterhin ein Christentum zu leben, das ein Zerrbild der Botschaft ist, für die Christus am Kreuze starb.“ Nicht nur einmal, sondern nahezu in jeder Stadt, in vielen Gesprächen bekamen wir diese Worte zu hören, die die tiefe Tragik Lateinamerikas kennzeichnen: die Last einer unbewältigten Vergangenheit und Gegenwart, die Unkenntnis eines Ausweges.

Kurz nach unserer Ankunft in Bogota, Kolumbien, gab uns der Leiter des CELAM (Consejo Episcopal Lati-noamericano), Msgr. Mendoza, eine umfassende Einführung in die geistigreligiöse und sozial-politische Situation des Kontinents, die wir in zahlreichen Gesprächen weiter ergänzen konnten: Konquistadoren und Missionare brachten ein Christentum iberischer Prägung nach Südamerika, das gekennzeichnet war durch den jahrhundertelangen Kampf gegen die mohammedanischen Araber. Dieser Kampf hatte es hart, eng und unduldsam gemacht, ja ihm selbst gewisse Züge des Sarazenentums aufgeprägt (wir werden bei der Frage der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus noch darauf zurückkommen). Trotz der großartigen Versuche verschiedener religiöser Orden, auf diesem Kontinent unter den Eingeborenen und der immigrierten Bevölkerung das Evangelium der Liebe und Brüderlichkeit zu verwirklichen, kam es in tragischer Weise zu der Entwicklung zweier voneinander streng getrennter Klassen: den Besitzenden (meist Europäer) und den Verarmten (Indianer, Negersklaven und gestrandete Weiße), die bis heute das Leben eines Unterproletariats führen. Von noch tiefgreifenderer Konsequenz war die Identifizierung der Kirche mit der besitzenden Klasse und einem Kapitalismus klassischer Prägung, der in direktem Widerspruch zur christlichen

Moral steht. Damit wurde dai Christentum an seiner Wurzel verletzt: Aus der Mißachtung des Gebotes der Nächstenliebe erwuchs dai Chaos, vor dem wir heute stehen. Ds seine letzte Ursache ein Versagen geistiger Natur ist, kann eine wahrhafte Wende der Situation auch nur aus einer geistigen Erneuerung kommen. Gelingt es nicht, diesen Grundpfeiler, diese wahrhafte und wesentliche Basis alles Christseins, die Nächsten- und Feindesliebe, wieder in den Mittelpunkt zu rücken, so wird Lateinamerika unweigerlich weiter einen geistigen Abstieg nehmen und schwersten politischen, sozialen und religiösen Krisen entgegengehen. Nur eine radikale Erneuerung, eine „Revolution der Liebe“, kann diesen Völkern inmitten einer rapiden Evolution nicht nur ihre Menschenwürde, sondern auch ihre Gotteskindschaft bringen. Erfolgt diese Umkehr des Christentums und die damit verbundene Umgestaltung der Gesellschaftsstruktur nicht, so besteht größte Gefahr, daß sich die Intelligenz und die Massen noch näher zum Marxismus hinwenden. Das Erschreckende an dieser Entwicklung ist, daß wir hier die Konsequenz unseres eigenen Versagens als Christen finden. Und wenn es Gläubige gibt, die immer noch meinen, durch Gewalt oder Wiedervergeltung, durch Militär- und Wirtschaftshilfe, die die herrschende Korruption nur festigen können, dort Abhilfe zu schaffen, wo Millionen darnach streben, als Gleichberechtigte ein menschenwürdiges Leben zu führen, und die damit ein Zeugnis ihres eigenen materialistischen Denkens ablegen, so beginnen doch viele Christen zu erkennen, daß den Massen dieses Leben nur durch ein tatkräftiges, gelebtes Christentum gebracht werden kann.

Denn klammern wir uns an eine Tradition, die sich von einem authentischen Christentum weit entfernt hat, bringen wir es nicht über uns, durch freiwilligen Verzicht und freiwillige Opfer diese Erneuerung auf allen Ebenen durchzuführen, dann wird das Aufwärtsstreben dieser Millionen Menschen stärker sein als ein entchrist-lichtes Christentum und dort Antwort suchen, wo wohl ein humanitärer, sozialer und gesellschaftlicher Elan, aber keine Lösung auf der Suche nach wirklichem Menschentum gegeben werden kann: im Kommunismus.

Die Besitzenden

Nirgendwo anders haben wir soviel Gastfreundschaft und Herzlichkeit, soviel guten Willen und Schlichtheit des Herzens in diesen Kreisen gefunden wie in Lateinamerika: Wir sprachen in aller Offenheit mit den Besitzern riesiger Zuckerplantagen in Lima und Recife (Brasilien), mit Großindustriellen und Bankiers in Rio, mit Rinderzüchtern und Besitzern von Kaffeeplantagen in Buenos Aires und Sao Paulo. In manchen Ländern ist es nur eine kleine Anzahl von Familien, die bis 90 Prozent des Landes und der In-

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