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Zwischen Mut und Vorsicht

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Mit seinem Flug zum Begräbnis — einer Geste, die in Washington gebührend gewürdigt wurde — drückte de Gaulle seine Anerkennung der staatsmännischen Begabung des Toten aus. In den Wochen vor seiner Ermordung machte Kennedy der neue Präsident von Argentinien das Leben schwer, als er die amerikanischen Ölflrmen verstaatlichte. Kennedy begriff die großen Schwierigkeiten, denen sich sein argentinischer Kollege gegenübersah. Er behielt ruhig Blut und verhinderte damit, daß der Haß auf den „nördlichen Koloß“ Argentinien erfaßte.

Dies Gleichmaß war es, das die westlichen Verbündeten mit Vertrauen erfüllte und sie den Verlust dieses Mannes so schmerzlich empfinden ließ. Sein Gleichgewicht zwischen Mut und Vorsicht, das für den ersten Mann der westlichen Allianz so wichtig ist, stabilisierte das Verhältnis zwischen Ost und West. Er erteilte Chruschtschow die Lektion, Amerika nicht ungestraft herausfordern zu dürfen, und gab ihm gleichzeitig die Zuversicht, daß er nicht überfallen werden würde. Nach den acht vorhergegangenen Jahren, in denen Amerika zwischen Kraftmeierei und Schwäche geschwankt hatte, war diese Leistung um so größer.

Ein schändlicher Rekord

So hatte das amerikanische Volk allen Grund zur Klage um einen Mann, der in einer Welt, die ständig schäbiger wird, dem griechischen Ideal des „kaloskagathos“ so nahe kam. Es begriff, daß ein solcher Mann einer Nation nicht oft geschenkt wird, und es schämte sich, weil es dies Geschenk nicht mit der nötigen Sorgfalt bewahrt hatte. Die

Amerikaner schlachten ihre Präsidenten beinahe ebenso unbedenklich ab, wie die Russen es mit den Zaren taten. Kennedy war der vierte Präsident, der einem Meuchelmörder zum Opfer fiel. Dies entspricht einem Durchschnitt von mehr als zehn Prozent. Ein schändlicher Rekord für ein Land, das sich sein Oberhaupt selbst gibt.

Der Stolz auf einen Präsidenten, der alle Anzeichen gab, sich im Lauf seines zweiten Amtstermines zu einem der größten zu entwickeln,

und die Scham über die Atmosphäre des Hasses, in der Mordlust gedieh, waren nicht die einzigen Gründe der tiefen Trauer. Die Nation, die der Jugend zujubelt und den Tod so verabscheut, daß er mit kosmetischen Künsten verschönt werden muß, weinte um den Verlust ihrer Jugend und zitterte vor der Unaufhaltsamkeit des Todes,

Der schaurige Kontrast zwischen dem Glanz des lebenden und. nur einen Augenblick später, dem Elend des sterbenden Kennedy, den die Nation auf dem Bildschirm mit ansehen mußte, versetzte sie in Schock. Er zwang sie zu einer Auseinandersetzung mit dem, was Sie nicht wahrhaben wollte, der Vergänglichkeit alles Irdischen. Kein mittelalterlicher Totentanz war grausamer, noch nie waren so viele Menschen gezwungen, ihm zuzuschauen. Aus frommen Worten wurde unerbittliche Wirklichkeit, als man sah, was es heißt, im Vollbesitz des Lebens vom Tod umgeben zu sein. Der mächtigste Mann der Erde wurde zum Anschauungsunterricht für eine im Materialismus verstockte Welt — und Amerika begriff.

Ein? Nation geißelt sich

Dreieinhalb Tage lang geißelte Amerika sich, als es auf die in ständiger Wiederholung vom Fernsehen gesandten Bilder des Grauens starrte, die Ermordung, die Überführung der Leiche nach Washington, die Erschießung des vermutlichen Mörders, das Begräbnis seines Opfers und sein eigenes, den tränenlosen Schmerz der Witwe, das Unverständnis der verlassenen Kinder. Dreieinhalb Tage, die nur dem Unfaßlichen gewidmet waren, ohne seichte Unterhaltung, ohne Reklame, ohne alles, womit der Amerikaner sich sonst ablenkt.

In diesen Stunden, die so viel länger schienen als sie waren, war Amerika so ruhig wie noch nie, waren die Menschen so gedrückt, wie es amerikanischer Art nicht entspricht, weinten robuste Männer auf offener Straße. Die Amerikaner kennen keinen Buß- und Bettag. Aber sie machten drei hintereinander durch.

In überfüllten Kirchen sandten Katholiken, deren erster Präsident ihnen nach so kurzer Zeit entrissen war, Protestanten und Juden in ökumenischer Eintracht ihre Gebete zum Himmel. Welcher Gegensatz zu 1960. als viele Protestanten beteten, ihnen möge ein katholischer Präsident erspart bleiben.

John Fitzgerald Kennedy, der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten, ist für Amerika gestorben.

Seine Landsleute werden ihn nicht vergessen.

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