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Zwischen Mythos und Realismus

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Wer heute die Weltpolitik betrachtet, muß feststellen, daß das Pathos der Unbedingtheit, das ein Kennzeichen aller aus einer solchen „mythischen“ Siegesgewißheit lebenden politischen Formationen ist (seien es Geheimbünde, Parteien oder aus ihnen erwachsene Staatsgebilde), fast völlig verschwunden ist. Die Politik im Jahre 1960 sucht überall nicht mehr das Un-dingte, sondern das Mögliche.

Das Ende des Nationalsozialismus zeigte, daß Träume von morgen stets dann als Bumerang wirken, wenn sie die gegenwärtige Realitiät im Bann der Vision falsch einschätzen. Hitlers Ausruf „Einem Volk, das die Freiheit will, werden die Gewehre aus den Händen wachsen“, schien so lange wahr, wie die deutsche Aufrüstung funktionierte. Als aber schließlich 16jährige Hitlerjungen im Berliner Endkampf mit nichts als Panzerfäusten gegen sowjetische Tanks vorgehen mußten, erwies er sich nicht nur als falsch, sondern als selbstmörderisch. Mit diesen Hitlerjungen starb der deutsche Mythos.

In Wahrheit lebte der „deutsche Mythos“, wie ihn die NSDAP-Führung aufrechtzuerhalten versuchte, seit rund zehn Jahren nur noch gewissermaßen in „Schutzhaft“. Am 30. Juni 1934 starb der „unbekannte SA-Mann“, Träger und Symbol der „Deutschen Revolution“, die Hitler seinen marschierenden Kolonnen versprochen hatte. Als Hitler den Tschechen gegenüber sein Wort brach, nach dem er keinerlei Interesse an Nichtdeutschen haben wollte, setzte das Pathos des aus den Herderschen Kategorien der Kultur-und Sprachgemeinschaften herübergeretteten völkischen Großdeutschland Rost an. Mit der Aus-mordung der nicht parteigebundenen deutschen Pührungsschicht in Adel, Offizierskorps, Verwaltung, Diplomatie und Arbeiterbewegung am 20. Juli 1944 trat endgültig an seine Stelle die Selbstidentifizierung eines größenwahnsinnig gewordenen Monomanen mit Schicksal und Weg der Gesamtnation. Im Führerbunker wurde nur noch der Schlußstrich gezogen.

Der Mythos der sozialistischen Revolution brach anderseits im Grunde bereits zusammen, als der Kanonendonner der von Leo Trotzkij befehligten Strafexpedition gegen die Matrosen von Kronstadt den letzten echten Freiheitsruf des kämpferischen Kommunismus „Alle Macht den Räten i“ übertönte. Was danach kam, als mit Lenins Tod die Techniker der Macht systematisch die Fanatiker der Utopie ablösten, ließ sich der Prozeß der Entmythisierung nur noch fast „organisch“ weiter vollziehen. Wenn 1945 in Deutschland die grausige Wirklichkeit die Vision einer neuen, einer deutschen, einer nationalsozialistischen Welt zerschlug, so hat zur gleichen Zeit, als rote Soldateska Berliner Arbeiterfrauen vergewaltigte, [ das Pathos des völkerbefreienden Kommunismus den militärischen Sieg und die politische Herrschaftsübernahme am Rande Europas nicht überlebt.

Seitdem gibt es weder im Westen noch im Osten letztlich eine politische Metaphysik.

Politische Wissenschaft, politische Erziehung kann zum Verständnis entscheidender Ereignisse des nationalen Lebens sehr viel beitragen; sie kann die außerpersönliche Zeugungskraft des echten politischen Mythos nicht ersetzen. „Gebranntes Kind scheut das Feuer“ meint man? Aber kann der Mensch ohne Feuer leben? Der Mythos des Prometheus starb auch im Atomzeitalter 'nicht.

Im Augenblick hat jedenfalls die Mythisie-rung der Politik mindestens in den Bezirken, die man heute gemeinhin als „Abendland“ zusammenfaßt — scheint es — ihre Rolle ausgespielt. Wo ein politischer Mythos noch scheinbar wirksam ist, handelt es sich um rudimentäre Erscheinungen oder aber, viel öfter, um die Beibehaltung von inzwischen ihres Kerns beraubten Wort-Schalen, die keinerlei Zeugungskraft mehr besitzen.

Die Entzauberung der politischen Sphäre, die hier zutage tritt, hat ihren Niederschlag auch darin gefunden, daß die Symbolkraft der Zeichen, die kämpferische Gemeinschaften vom Gegner und vom Gleichgültigen abzuheben pflegten — Parteiabzeichen, Kampflieder, nonkonformistische Fahnen —, fast völlig verlorengegangen ist. Selbst Nationalhymnen und Landesflaggen sind in diesen Prozeß hineingezogen worden: man bedient sich ihrer nur noch im Rahmen konventionell gewordener Riten, wie man zu bestimmten Gelegenheiten einen dunklen Anzug trägt.

Die rote Fahne und die „Internationale“, das Hakenkreuzbanner und das Horst-Wessel-Lied hatten noch, neben ihrem funktionellen, propagandistisch benutzbaren Wert so etwas wie einen totemistischen Charakter. Walter Flex hat einmal formuliert: „Wer auf die preußische Fahne schwört, hat nichts mehr, was ihm selber gehört!“ Nicht nur Preußen erhob diesen Anspruch. Jede Bewegung, die einem Mythos folgte, verlangte das gleiche.

Nichts von all dem ist wiederholbar. Weder Lenins Suggestionskraft noch Hitlers „Charme“, weder Bebels einfache Sicherheit noch Bismarcks politische Klugheit, weder F. D. Roosevelts Smartness noch Rommels Feldherrnruhm haben nach dem Tode des Betreffenden als motorischer Impuls weitergewirkt. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß man vom Sarkophag eines toten Führers aus Nachfolgebewegungen ideologisch legitimieren kann. Das Schicksal des Bonapartismus sollte gewarnt haben.

Politische Mythen sind keine Abstrakta. Sie sind erst dann existent, wenn sie von Herz und Hirn einer Menschengruppe Besitz ergreifen. Man „macht“ sie nicht. Sie „passieren“, wie Hans Blüher sagen würde: ein Kairos, ein Tag der Gnade — religiös gesprochen —, eine Stunde der geschichtlichen Zwangsläufigkeit wie der säkularisierte Glaube sie erklären würde, gebiert sie. In wenigen, sehr wenigen Fällen, kann wohl auch ein Mythos dieser Art „gestiftet“ werden: Stefan George stiftete den Mythos vom Neuen Reich, personifiziert in der Person Maximins, auf die reale Welt ausstrahlend etwa in dem Gedicht „An einen jungen Führer im ersten Weltkrieg“.

Es hat seitdem in der deutschen, in der europäischen Geschichte der Ideologien nichts Ähnliches mehr gegeben. Politische Mythen sind im allgemeinen nicht Einzelbotschaft, sondern Gemeinschaftserlebnis. Gemeinschaften aber gibt ••es tantn^rroch.Er'gtbf rrur noch Organisationen, Zweckverbände, Parteien. Als solche sind sie nützlich und notwendig. Aber sie lügen, wenn sie von „heiligen Gütern“ sprechen. Sie meinen Interessen.

Inzwischen beherrscht „Realpolitik“ die westliche Welt - und Rußland.

Die deutschen Flüchtlingsverbände haben den „Ritt nach dem Osten“ einem „realen“ Bonner Ministersitz blutenden Herzens aufgeopfert; selbst der von beiden Deutschlands gleichzeitig erhobene Ruf nach der deutschen Wiedervereinigung entbehrt im Wust der in die Forderung stets eingebauten Sicherheitsklauseln wirklicher Überzeugungskraft.

Der amerikanische Außenminister versichert der Welt allwöchentlich, wie unerschütterlich die USA an den Prinzipien ihres Way of Life festhalten und relativiert fast jede grundsätzliche Erklärung kurz danach durch Erläuterungen im Konditionalstil. In den Volksdemokratien und der UdSSR ist seit Stalins Tod mehr als einmal „schwarz“ plötzlich als „weiß“ deklariert worden. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren: — Der Realismus regiert die Stunde:

Dynamik schwelt nur noch unterirdisch. An der Oberfläche scheint überall die Vernunft, die Kompromißbereitschaft dem Entweder-Oder vorzieht, alle Explosivstoffe sehr pfleglich zu behandeln. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das zu einer erfreulichen Entspannung der — vor allem außenpolitischen — Gegensätze geführt hat.

Wofür aber steht „das Abendland“ eigentlich wirklich? Die Frage gewinnt ein ständig größer werdendes Gewicht vor allem auch deshalb, weil sich im Osten ganz konkret ein neuer antiwestlicher Gegenmythos herausbildet. Rußland, das im Grunde ja stets eurasisch war, das heißt zum Teil, in der führenden Schicht, zu Europa gehörte, ist heute mit der den Marxismus an erster Stelle einbeziehenden Ideenkrise in den Sog des europäischen „Realismus“ hineingezogen worden.

Der „Osten“ spricht heute bereits nicht mehr von Moskau aus. Das China Mao Tse-tungs zum Beispiel knüpft in vielen Bereichen an die Jahrtausende alte Verheißung an, daß die Söhne des Himmels die Erde beherrschen werden. Wann und in welcher Form hier die russisch-weltlichmarxistische Überfremdung der großen weltrevolutionären Aufbruchsbewegung der farbigen Völker abgeworfen wird und diese ein eigenes, gemeinsames Gesicht annimmt, weiß niemand.

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