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Zwischen Ratio und Mystik

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„Musil wird das nie werden können, was man populär nennt“, sagte Franz Blei, einer der kritischsten Beobachter des zeitgenössischen Literaturlebens 1940 von seinem Freund, der damals vereinsamt und verbittert in Genf lebte und zwei Jahre später, am 15. April 1942, starb. Und tatsächlich: Nach anfänglichen literarischen Erfolgen — „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, 1906, und „Der Mann ohne Eigenschaften“, 1. Band, 1930 —, die ihm positive Kritiken von Thomas Mann, Werner Bergengruen, Alfred Döblin eingetragen hatten, wurde Musil sowohl vom Leserpublikum als auch von Literaturkritik und -Wissenschaft im wahrsten Sinne des Wortes vergessen.

Erst sieben Jahre nach seinem Tod erschien von Eithne Wilkins und dem Wiener Ernst Kaiser im „Literary Supplement“ der Londoner „Times“ ein erster Artikel, der Musil als den „bedeutendsten deutschschreibenden Romancier dieser Jahrhunderthälfte und zugleich unbekanntesten Schriftsteller dieses Zeitalters“ hervorhob. 1952 beginnt Adolf Frise mit der Herausgabe der Werke im Rowohlt-Verlag, 1953 erscheint die erste wissenschaftliche Arbeit über Musil von Gerhart Baumann, der 1956 einen weiteren Beitrag zur Erkenntnis der Dichtung und des Dichters lieferte, der neben Kafka, Broch und Doderer dem österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts Weltgeltung verschaffte. Wieviel vom Werk dieses Dichters der Öffentlichkeit erst noch zugänglich zu machen ist and welche Arbeit der Wissenschaft noch bevorsteht, wurde erst vor kurzem im Zusammenhang mit den Bemühungen Österreichs um Musils Nachlaß deutlich.

Schon in seinem Erstlingswerk, in dem der junge Törleß Zahlen zwar formal-rational durchaus begreift, aber mit den sich daraus ergebenden philosophischen Problemen nicht fertig wird, verweist Musil auf ein wesentliches Spannungsfeld in seiner gesamten Dichtung, auf die zwei einander entgegengesetzten Möglichkeiten, der Welt gegenüberzutreten: die rationale oder die mystische. Dasselbe Thema wird auch in dem meteorologischen Bericht, der „eine Art Einleitung“ zu dem „Mann ohne Eigenschaften“ bildet, angeschlagen, wenn dem schlichten Erlebnissatz „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“, der einen traditionellen Roman zu verheißen scheint, ein mit meteorologischen Fachtermini gespickter Wetterbericht gegenübergestellt ist. Die wissenschaftlichrationale Haltung des Meteorologen, das Wetter durch Abstraktionen in ein Begriffssystem einzuordnen, widerspricht der ästhetischen Haltung des Menschen, der das Phänomen des Wetters als Ganzes auf sein Gemüt wirken läßt und es als einmalig empfindet. Alle musilschen Menschen stehen unter diesem Spannungsgegensatz von Geist und Gemüt, Erkennen und Erleben, Ratio und Mystik.

Allen musilschen Menschen sind Augenblicke mystischer Stille geschenkt. „Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieser schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug der Natur teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Liebes- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. ,Da ward mir das Herz aus der Brust genommen', hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich dessen.“

Alle musilschen Menschen erleben den Einbruch des Irrationalen in ihr Dasein, das Versinken in Gott ohne Gott, den von Musil so genannten „anderen Zustand“. Aber für den „Mann ohne Eigenschaften“, für Ulrich-Musil, den Mystiker mit rationalen Bedürfnissen, geht die Suche nach dem rechten Leben weiter. Alle Menschen in Musils Werk müssen diese Inseln mystischer Stille wieder verlassen. Es bleibt die verwirrende Doppelgesichtigkeit alles Seins.

Die widersprüchlichen Haltungen, die die beiden verschiedenen Grundeinstellungen des Menschen zur Welt im Erkennen und Erleben kennzeichnen, zwingt Musil mit hartem Griff in eins: in einen Menschen, in ein Erlebnis, in einen Roman. Eine ungeheure Spannung, die alles zu sprengen droht, durchzieht Personen und Handlung, Romangefüge, Satz und Satzteile bis zum Letzten — und gelangt zu keiner Lösung. — Es blieb ein vergebliches und endloses Suchen des Dichters und Menschen Robert Musil nach Lösungsmöglichkeiten.

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