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Zwischen Rom und Mailand

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Mailand, in Mai. Die Polemik zwischen den beiden italienischen Kapitalen — rwei Hauptstädten, von denen keine der anderen das Vorrecht einräumen will, die Ente Italiens zu ein — ist in diesen Tagen unter der Drohung einer Exportkrise zu erneuter Heftigkeit aufgeflammt. Mailand wirft Rom diesmal einen den Handel lähmenden Bürokratismus und Korruption vor. Auf Verwaltungsratsitzun-gen der Industrien werden separatistische Meinungen laut. An den Häuserfronten erscheinen wieder Kreideaufschriften, wie „Via i terroni — Weg mit den Südländern 1“ oder das vulgäre Wortspiel „Via i sudici!“ „Fort mit den Schmutzfinken!“ In der Konstituante werfen die Abgeordneten aus den nördlichen und rüdlichen Regionen einander Ausdrücke an den Kopf, die sie in ihrem zivilen Dasein mindestens mit dem Aufheben des Grußfußes beantworten würden.

Im vergangenen Winter war die Elektrizitätskrise Streitgegenstand, vorher war ee die Bevorzugung des Südens bei der Verteilung von pasta asciutta, vorher kritisierte man die Wahl eines Neapolitaners zum Staatspräsidenten, vorher noch ... Es gab immer ein Vorher. Die Polemik zwischen Nord und Süd ist so alt wie die nun langsam abtretende politische Generation. Sie begann an dem Tage der Einigung Italiens, als Cavour mahnend ausrief: „Italien ist gemacht, nun muß man den Italiener machen!“ und ist heute lebhafter denn je, obwohl De Gasperi die Nation beschwörend zur Solidarität aufgerufen hat.

Ausländische Reisende sind mit dem festen Willen gekommen, das Land ernsthaft kennenzulernen, und haben das Problem des Südens immer wieder neu entdeckt. Sobald sie den Futapaß oder den Abetone auf dem Apenninenkamm überschritten hatten, befanden sie sich im klassischen Süden, nördlich dieser physikalischen, kulturellen, sozialen und politischen Wasserscheide lag der im Winter schneereiche und nebelige barbarische Norden. Die Natur selbst bestätigte ihnen also die Existenz des Problems. Es scheint sich hier um ein geographisches Naturgesetz zu handeln, das für die alte wie die neue Welt gleiche Gültigkeit hat: der Gegensatz zwischen der ernsteren Lebensart des Nordländers mit seiner materiellen Produktionskraft und die leichtere, schmiegsamere des Südländers mit seiner kulturschöpferischen Phantasie. Die Höhe des Breitengrades ist dabei ohne Belang, denn auch der Londoner belächelt den Schotten, der Wärmlander oder Stockholmer runzelt die Stirne, wenn er den Akzent aus Norrbotten hört, in Amerika schätzt der Südstaatler die betriebsame Tüchtigkeit des Yankees immer noch gering, und auch die Leute aus Kanton sollen für ihre Landsleute aus Peking wenig Sympathie aufbringen.

In der jüngsten Geschichte Italiens gab es eigentlich nur eine einzige Periode, in der die traditionelle Polemik zwischen Nord und Süd verstummte. Sie dauerte vom Juni 1944 bis zum April 1945 und bezeichnet die kurze, aber schmerzensreiche Trennung des Nordens vom Süden durdi die Front im Arnotal. Aber während noch die Piemontesen und Lombarden und Veneter sehnsüchtig nach ihren Brüdern in Rom, Neapel und Palermo ausschauten, zeichnete sich bereits eine neue politische Zerklüftung ab, hervorgerufen durch eine Verwirrung der Ideen, von Recht und Unrecht, von Legalität und Illegalität, die diesseits und jenseits der Gotenlinie umgekehrte Vorzeichen trugen. Drüben herrschten die Monarchie und die angelsächsischen Befreier, das neue Byzanz, hier die Republik von Said und die „Goten“. Wie tiefwirkend der moralische Schaden war, beweist, daß heute die italienische Regierung gezwungen ist, den „Republikanern der ersten Stunde“, nämlich den Anhängern der faschistischen Republik, die Auswanderung nach Südamerika zu erleichtern, um diesen Leuten, die Elemente der Unruhe im eigenen Lande wären, jenseits des Ozeans eine Lebensmöglichkeit zu bieten. Der Faschismus hatte sich bemüht, durch künstlich hervorgerufene Bevölkerungsbewegungen und Vermischungen den „Italiener“ zu schaffen, und er war es schließlich, der die Kluft zwischen Nord und Süd — noch weiter aufriß.

Fast sofort nach der Befreiung gingen Nord und Süd verschiedene Wege, die d i a-metral auseinanderführten. Der Norden wurde überwiegend republikanisch und wendete sich nach links, der Süden wurde überwiegend monarchistisch und ging nach rechts. Die Entwicklung nach den beiden entgegengesetzten Extremismen wäre gefährlich geworden, hätte nicht die christlich-demokratische Partei De Gasperis an beiden Enden der Halbinsel die Zügel in die Fland genommen. Sie konnte nicht verhindern, daß die zentrifugalen Kräfte, die naturgesetzlich am Rande der Bewegung am stärksten sind, sowohl im Norden wie in Sizilien unter dem Motto „Los von Rom!“ separatistische Ziele verfolgten.

Die Sizilianer sprechen vom „Kontinent“, wenn sie Italien meinen, und für die Süditaliener beginnt jenseits des Apennincn-kammes erst Europa, das düstere, barbarische Reich der Goten, nach dem sie mit einem Gemisch von Mißtrauen und Angst vor so viel Tüchtigkeit hirrüberblicken. Allen rassischen Vermischungen zum Trotz spüren sie immer noch ihr klassisches, mediterranes Römertum im Blut. Zwischen den Fronten liegt die Toskana, WO ich Gotisches und Klassisches vermischen und nicht zum Nachteil für beide.

Aber trotz allem Mißtrauen ziehen jährlich Hunderte von Intellektuellen nach Mailand, angezogen von der Fata Morgana des Erfolges, des Reichtums, der in der Metropole des Nordens wohnt, dem wichtigsten Verlagszentrum und Hauptumschlagplatz für den Kunsthandel. Eine Umfrage in den Zeitungsredaktionen hat ergeben, daß nur ein Zehntel der Redakteure aus Mailand selbst stammt, die übrigen sind von auswärts und stammen größtenteils aus dem Süden. Das gleiche Verhältnis dürfte für die Schriftsteller und Künstler gelten. So verdankt Mailand seinen Ruf als intellektuell lebendigste Stadt Italiens gerade den Meri-dionalen, die ihre Kultur, Phantasie und Berufung mitbringen. Mailand macht es den ungerufenen Gästen allerdings nicht leicht. In Rom erfolgreiche Künstler sehen sich hier oft aus dem einzigen Grunde boykottiert, weil sie aus dem Süden stammen. Manche suchen dem biblischen Fluch ihrer Abstammung dadurch zu entfliehen, daß sie sich hinter den schützenden Schild einer extremen Massenpartei stellen. In diesem Fall überwindet die Parteisolidarität das Vorurteil der Herkunft. Denn dies ist einer der Hauptunterschiede zwischen der republik anischen Monarchie im Norden und der monarchistischen Republik im Süden: der Süditaliener ist im tiefsten Grunde parteilos, und wo er Parteigänger ist, sucht er dies in seinen bürgerlichen und intellektuellen Beziehungen zu vergessen. Im Norden ist die Partei alles, und Rechts und Links sind zwei Welten, die keine Verbindung miteinander' haben. Darum ist der Mailänder auch so leicht geneigt, dem Römer Zynismus, Indifferenz und Kompromißbereitschaft vorzuwerfen. Die persönliche Freiheit allerdings findet sich leichter südlich, der Gotenlinie.

Der Journalist Italo Zingarelli erzählt in seinen kürzlich erschienenen Lebenserinnerungen, wie er, der Süditaliener, bei seinem Eintritt in den Mailänder „Corriere della Sera“ gezwungen wurde, seinen Beruf mit wissenschaftlicher Genauigkeit auszuüben und wie seine Tätigkeit vom Direktor des Blattes mit der Uhr in der Hand kontrolliert wurde. Die gleiche Erfahrung machen alle Schriftsteller und Künstler, die nach der lombardischen Hauptstadt ziehen. Wenn sie geduldet werden wollen, müssen sie sich dem Lebens- und Arbeitsrhythmus der Stadt fügen. Das Bonmot und der Klatsch, so beliebt beim Römer, der unterhalten sein will, findet hier keinen Anklang. Mailand gefällt sich in einer ernsten Haltung und zieht die Erörterung konkreter sozialer und kultureller Probleme vor. Pünktlichkeit und Fleiß gelten auch beim Künstler als schätzenswerte Tugenden. Selbst der freie Schriftsteller arbeitet hier gerne nach einem festen Stundenplan.

Viele kommen nach Mailand, aber nur wenige finden den ersehnten Erfolg. Die anderen schwenken nach den verschiedensten Berufen ab oder kehren zurück. Die Mailänder, gewohnt den Menschen nach dem Posten zu beurteilen, den er erringen konnte, oder nach seinem Einkommen, betrachten diese als Besiegte. In Wahrheit aber, wer weiß es, sind vielleicht gerade sie die Sieger, weil es der Assimilierungskraft der betriebsamen, reichen, mächtigen Stadt nicht gelungen ist, sie zu beugen.

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