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Zwischen Tat und Traum

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„Dies ist die Geschichte eines großen Dichters, dessen bestes Werk sein eigenes Leben war.“ So beginnt Sieburg seine Biographie des französischen Dichters und Politikers Francois-Rene de Chateaubriand (1768—1848). Er ist der Vater der französischen Romantik und Erneuerer der katholischen Literatur, der Verfasser des „Rene“ und der „Atala“, des „Genius des Christentums“ und vor allem der großartigen „Erinnerungen von jenseits des Grabes“, einer der bedeutendsten Prosaisten Frankreichs, aber auch ein seltsam zwiespältiger Charakter von fesselnder Eigenart. Sieburg hat sich seit Jahrzehnten mit ihm beschäftigt und gibt uns nun ein Lebensbild, das uns Wesen und Wirken dieses merkwürdigen Mannes aus den Bedingungen seiner Individualität und seiner Zeit heraus verstehen läßt.

Dieser bretonische Edelmann, von dem Joubert gesagt hat, „er schrieb nur für die anderen und lebte nur für sich“, war eine kompliziert; von der ständigen Spannung gegensätzlicher Wünsche beherrschte

Natur. „Sein Ehrgeiz kämpfte in der Tat bis zum letzten Atemzug mit seinem Stolz, seine Lust an den Gütern des Lebens rang ohne Aufhören mit seinem Weltschmerz, den er schöner und beredter vertreten hat als irgendein anderer Sterblicher“, schreibt Sie-bürg, und er charakterisiert ein solches Lebensgefühl mit der Formel „Appetit und Überdruß“. Chateaubriand war maßlos ehrgeizig und litt doch unter dem ständigen Bewußtsein der Vergänglichkeit alles Irdischen, er brauchte die Menschen, vor allem die Frauen, und liebte die Einsamkeit, er strebte nach äußerer Macht, blieb aber in seinen Träumen gefangen, und die pathetische Gebätde, die romantisch-ästhetische Verklärung des eigenen Lebens war ihm innerstes Bedürfnis. Immer war er auf der Flucht vor der Langeweile. Diese Mentalität entsprach dem Geist der Zeit, dem Lord Byron mit seinem „Spleen“ exzentrischen Ausdruck gegeben hat. i]s ist ein reiches, bewegtes Leben, das uns Sieburo meisterhaft vor Augen führt. Chateaubriand nahm an allen großen geschichtlichen Ereignissen in Frankreich zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848 aktiven Anteil. Nach seinen Reisen in Amerika schloß er sich als unentwegter Royalist der Koalitionsarmee an, lebte als Emigrant in England, kehrte ins Vaterland zurück, wurde mit „Atala“ über Nacht berühmt, bewunderte und haßte zugleich Napoleon, diente den Bourbonen, war Botschafter in Berlin. London und Rom, wurde Außenminister und Parteiführer und trat nach dem Sturz Karls X. von der politischen Bühne ab, um nur noch seinem dichten sehen Schaffen zu leben. Immer war er, der große „Bezauberer“, von schönen Frauen umschwärmt, keiner aber so tief beständig verbunden wie Madame Recamier. Sieburg zeigt, wie Chateaubriand aus ritterlicher Treue einer verlorenen Sache, abgelebten politischen Formen, diente, aber doch die Unaufhaltsamkeit der großen historischen Umwälzungen im 19. Jahrhundert erkannte. Er macht auch den entscheidenden Konflikt im Leben dieses Mannes deutlich: den Konflikt zwischen Tat und Traum, zwischen Politik und Romantik Da Chateaubriand den Führungsanspruch des Dichters auch im politischen Bereich erhob, mußte er den Zwiespalt von dichterischer Berufung und Machtstreben austragen.

Sieburgs Kunst, Charaktere zu deuten, die geistige und politische Eigenart einer Epoche zu schildern, das Besondere ihrer Atmosphäre einzufangen und in brillanten Formulierungen Situationen einprägsam darzustellen, hat sich in diesem Lebens- und Zeitbild wieder hervorragend bewährt Eine kritische Betrachtung der Werke des Dichters zu geben, lag nach Sieburgs eigenen Worten nicht in seiner Absicht. Schade, denn ein so feiner Literaturkenner wie er hätte hier sicher Wesentliches zu sagen gehabt.

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