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Zwischenspiel vor großer Entscheidung

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Sind es wirklich nur vier Jahre, seit sich unser Volk auf die ersten Wahlen in der zweiten Republik vorbereitete? Trennt uns in der Tat nur eine so kurze Frist von jenen Monaten, in denen wir aus dem Polizeistaat Hitlers, der Zwangsbewirtschaftung des Denkens, den Kerkern und Konzentrationslagern zur Freiheit zurückgekehrt waren, und ist es nicht viel länger her, daß an den Plakatwänden Wiens die roten Anschläge klebten, die uns entgegenschrien, wer abermals dem Henker verfallen war? — Man möchte sich die Erinnerung wie einen bösen Traum aus den Augen wischen. An ihr ermessen wir die in unserem Erleben zurückgclegten ungeheuren Distanzen, als hätte sie unsere Generation mit den Siebenmeilenstiefeln des Märchens durchschritten.

Merklich vollzieht sich das diesmalige Vorspiel zu den Nationalratswahlen in starker Entfernung von der politisch-psychologischen Situation des Jahres 1945 und scheinbar unter anderen Voraussetzungen als damals, obwohl die großen Tatsachen unserer staatlichen und ökonomischen Lage im Wesen dieselben geblieben sind: Noch haben wir die Unabhängigkeit unseres Landes nicht zurückerhalten, und noch sind wir über die ersten Etappen des materiellen Wiederaufbaus — von allen anderen Wunden nicht zu reden — nicht hinaus. Aber es gehört zu den Neigungen der Menschen, aus dem Guten wie aus dem Dösen einen Gewöhnungszustand zu machen.

Was vor vier Jahren noch als furchtbare, erst kaum überstandene oder noch immer drohend hochaufgerichtete Realität vor dem allgemeinen Bewußtsein stand, der staatliche Untergang unseres Österreichs, das vergossene Blut unserer Brüder und Schwestern, Trümmer vieler tausender Wohnstätten unserer Heimat — dieses Bild ist heute im Denken und Empfinden vieler Menschen verblaßt. Redliche Vorsätze, die in dem Hochgefühl des Eriöstseins von sklavischer Qual gefaßt worden: Versöhnung, Frieden, Zusammenstehen, gemeinsames Schaffen für die öffentliche Wohlfahrt! — sind an harten Wirklichkeiten gescheitert oder im Alltag ertrunken. So ist der rauschende Elan der ersten Befreiungszeit langsam in den grauen Ebenen der Gewohnheit verebbt, das politische Tun ist unpathetischer und komplizierter geworden. Ständischer Egoismus, persönliche Aspirationen und Interessen mengen sich in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens. Es ist heute mit menschlichen Mängeln reichlich gesättigt. Hier bestehen Gefahren, die Wachsamkeit verlangen.

Der eigentliche Wahlfeldzug ist : noch nicht eröffnet, aber auch sein Vorspruch läßt die gegenüber 1945 sich abhebende andere Stimmungslage erkennen. Es bedürfte zu dieser Veränderung nicht noch der besonderen Tatsache, daß diesmal rund eine Million neuer Wähler von den Parteien zu umwerben sind. Jetzt haben neben schwer berechenbaren neuen Kräften die Kritiker und Kritikaster, die Einzelgänger und Weltverbesserer Hochsaison, und wenn sich genug Geldgeber fänden, die geneigt und imstande wären, Kapital in der Förderung kapitalistischer und antikapitalistischer Parteineugründungen zu investieren, so würde man gewiß Aussicht haben, die angesagten vierzig Parteien wenigstens vor dem Wahltag zu erleben. So wird neben den alten Parteien voraussichtlich nur der „Verband der Unabhängigen“ als ernstlich vernehmlicher Wahlwerber in den Ring treten. Die von einem begabten, trefflichen Manne eingeleitete, aber am ersten Tage von anderen Händen falschinst radierte Gründung wurde in einen Strudel leidenschaftlich nach neuer Geltung ringender Kräfte gerissen, aus dem sie 6ich nicht mehr retten kann. Das Schicksal der Splitterpartei, vor dem der Gründer selbst einmal warnte, ist eingetreten. Es ist gar nicht mehr zu verbergen: Gehaben und Wörterbuch einer überstandenen Epoche werden ge- . legentlich ergänzt durch die Dialektik des alten Freisinns. Es hätte nicht so werden müssen.

Der Versuch einer ähnlichen Splitterbildung im sozialistischen Lager Lt gescheitert. Erwin Scharf, der verbannte Rebell der Sozialisten, der mit einer „linkssozialistischen Partei“ begann, ist in der Gemeinschaft der Kommunisten gelandet. Noch am 6. November vorigen Jahres bekannte er in einer vor der Presse für die Öffentlichkeit abgegebenen Erklärung auf die Frage, welcher „prinzipielle Unterschied“ ihn von den Kommunisten trenne: „Ich bin überzeugt, daß in Österreich nichts getan ist mit einem bedingungslosen Parteiergreifen und bedingungslosen Einordnen in den Ostblock. Ich bin für eine bedingungslose Neutralität.“ — Und nun hat der also Überzeugte sich doch eingeordnet in das Lager der ,bedingungslosen Einordnung“. Der österreichische Kommunismus wird an ihm keine große Freude erleben. Als Führer eines selbständigen radikalen politischen Fähnleins hätte er aus kritischen Randgebieten der Sozialistischen Partei Wähler entführen können, als Hausgenosse des Kommunismus schwerlich. Der österreichische Arbeiter weiß genug vom Kommunismus aus eigenem Hören und Sehen. Vermutlich liegen denn auch die Hoffnungen des österreichischen Kommunismus in anderer Richtung. Die Besatzungsmacht, die bisher ihre väterliche Hand auf dem Scheitel ihres Zöglings ruhen ließ, wird Österreich nach dem Zustandekommen des Staatsvertrags nicht verlassen wollen, ohne vorher,im Bereich ihrer Demarkationslinien sich noch kräftiger als bisher als hilfsbereiter, um Recht und Gesetz un- bekümmterter Patron bemüht zu haben. Ist der Raum für diese Gönnerschaft auch nur ein Teil Österreichs, so ist et doch ein politisch und wirtschaftlich außerordentlich wichtiger. .

In den Parteizentralen sind jetzt die letzten Vorbereitungen für die Erstellung der Kandidatenlisten im Gang. Noch wichtiger als die zahlenmäßige Stärk einer parlamentarischen Partei ist die Tüchtigkeit der Männer, die in ihrer Mitte zu Gesetzgebern, zu Hütern und Pflegern der gesunden, geistigen, sittlichen und ökonomischen

Lebenskräfte des Volkstums, als 'Wahrer seiner Rechte„ als Wardeine, seiner Freiheit auserkoren sind. An welchen Mängeln die Gesetzgebung der letzten Jahre gelitten hat und wie verhängnisvoll dieses Versagen aus eigener Schwäche und Schuld nicht selten wurde, das liegt uns allen noch in den Gliedern.

Die Besten voran! Charakterfeste, erfahrene, selbstlose Männer, zuverlässig als Christen und Österreicher! Das müßte jetzt überall, wo verantwortungsbewußte christliche Menschen um die Auswahl der neuen Volksboten besorgt sind, die unabhandel- bare Forderung sein.

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