Werbung
Werbung
Werbung

Kinder und Massenmedien: Schon vor 200 Jahren fürchteten Pädagogen, zuviel Lesen führe bei Buben zu Masturbation und in den Wahnsinn.

Bis heute reißt die Diskussion, ob Massenmedien den Kindern schaden oder nutzen, nicht ab. Was mit dem Stichwort "Erfurt" im April 2002 einen Höhepunkt erreichte - damals erschoss ein 19-Jähriger, der intensiv aggressive Computerspiele konsumiert hatte, 16 Mitschüler und Lehrer, bevor er sich selbst richtete -, fußt auf einer langen Angst-Tradition im Umgang mit "Massenkommunikation". Für Irmela Schneider, Kölner Professorin, die derzeit am Wiener Institut für Kulturwissenschaften forscht, spannt sich der Bogen bis in die Zeit der aufkommenden Buchlektüre im 18. Jahrhundert: "Seit damals beschäftigt sich unsere Gesellschaft mit dem Phänomen der Massenkommunikation. Und bis heute ist, trotz allergrößten Forschungsaufwandes, ungeklärt, was dabei wirklich abläuft."

Insbesondere der Kindheit und Jugend gilt seit jeher die intensive Aufmerksamkeit seitens besorgter Eltern, Pädagogen, Mediziner oder Kirchenvertreter. War es im frühen 19. Jahrhundert die Angst, dass speziell Buben durch zuviel Lesen zur Masturbation und daran anschließend in den Wahnsinn getrieben würden, ist es mit Aufkommen des Fernsehens in den späten fünfziger Jahren die Angst, dass die Kinder davon süchtig werden könnten. Die Pathologisierung der Massenkommunikation erreichte einen ersten Höhepunkt. "Die Angst bestand, dass der Mensch, gleich ob klein oder groß, nicht maßvoll mit dem Medium Fernsehen umgehen könne," so Schneider. Auch die medizinischen Vorbehalte gegenüber dem privaten, unbeaufsichtigten Konsum von Medien kennen Kontinuitäten: Die Jugendlichen würden schlechter sehen, die Wirbelsäule würde belastet werden, Ohrenärzte reklamierten Sorge bezüglich des Hörens. Vertraute Argumente: Allein die Angst vor möglicher Fettleibigkeit beim Nachwuchs scheint neueren Datums zu sein.

Optimistische Sichtweisen auf den kindlichen Medienkonsum gab es kaum. Allenfalls die sechziger Jahre scheinen solche Momente gekannt zu haben: Damals entdeckte man seitens der TV-Verantwortlichen das britische und amerikanische Schulfernsehen. Die Hoffnung: Massenmedien würden die Kinder bilden, kindgerechte Serien könnten als Gesellschaftskunde funktionieren. Bis dahin galt, so Schneider, "dass Kinder unter sechs Jahren prinzipiell mit Massenmedien keinen Kontakt haben sollten." Erst Sendungen wie die US-Serie "Sesam Straße" brachte hier Bewegung: Gekoppelt mit einer aus heutiger Sicht nur allzu bekannten "Bildungsnotstandsdebatte" Mitte der sechziger Jahre wurde dem Schulfernsehen wie auch dem vorschulischen Fernsehen entsprechende Aufmerksamkeit entgegengebracht.

Schule und Massenmedien

Wobei - auch dies erinnert an aktuelle Diskussionen, gerade die Verbindung von "Schule" und "Fernsehen" den pädagogischen Optimismus beförderte. Es war die Geburtsstunde der "Sendung mit der Maus": "Das Fernsehen, gekoppelt mit der Institution Schule wischte vielen Argwohn beiseite", resümiert Schneider, die nicht darauf vergisst an die "Schulen ans Netz"-Parolen der jüngsten Jahre zu erinnern. Während der Medienkonsum in den eigenen vier Wänden verpönt blieb, reüssierte Kinder-TV in der Schule. Was zu Hause schlecht war, war im Klassenzimmer auf einmal wertvoll: Für Schneider ein Indiz, dass mit diesem Transfer zugleich auch ein kleiner Sieg über die anonyme, unsichtbare Massenkommunikation erzielt werden konnte. Freilich, nur bis zu dem Zeitpunkt, als die ersten Begleitforschungen Ende der siebziger Jahre viele Hoffnungen wieder zunichte machten.

Der Spiegel titelte damals etwa mit "Blutrausch im Kinderzimmer", die Gazetten füllten sich abermals mit Skepsis und Verbotsforderungen, das Hauptargument hieß aber nicht mehr "Sucht", sondern "Gewalt". Wie sehr so manches Wissen über Medien und Kindheit auf nur scheinbar gesicherten Füßen steht, macht die Wissenschaftlerin an der Einführung der 20-minütigen Blöcke im Kinder-TV fest: Nur weil Psychologen annahmen, dass nach 20 Minuten die Konzentration an sich nachlasse, konzipierten die Verantwortlichen in den TV-Anstalten entsprechende Sendungsblöcke fürs Kinder-TV. Fazit für Schneider: "Die Programmphilosophien beim Kinder-Fernsehen sind ein Konglomerat von psychologischen Annahmen, medizinischen Erwartungen und pädagogischen Empfehlungen." Daran scheint sich bis heute trotz wuchernder Begleitforschung nicht viel geändert zu haben. Das Fernsehen ist zwar heute in einer Bedrohung zurück getreten und wird immer mehr als Hintergrundmedium definiert, dafür hat der Computer sämtliche "Angst"- und "Gewalt"-Argumente umgehängt bekommen. Kinder-Massemedien: Das Rätsel, was dabei wirklich passiert, bleibt weiterhin ungelöst. "Die Unruhe, darüber nicht genau Bescheid zu wissen, ebenso", hält Schneider fest.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung