Bilderrätsel gewaltigen Ausmaßes

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DIE WIEDERGEFUNDENE ZEIT - Le Temps Retrouvé

Eines der ambitioniertesten Unterfangen schlechthin: Raúl Ruiz, genialer Bilderschöpfer in der surrealistischen Tradition, hat den letzten Band von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verfilmt. Auch wenn Ruiz' Drehbuchautor Gilles Taurand das Kunststück gelungen ist, in drei Abschnitten - gesellschaftliche Ereignisse der Jahre 1914, 1916 und 1928 -, einer Gegenwart des sterbenden Marcel Proust und Rückblicken auf die anderen Bände des Romanzyklus den ganzen Zeitrahmen des letzten Bandes von Proust zu erfassen und mit der Figur des Autors zugleich Aspekte der Entstehungsgeschichte des Werkes einzubinden, geht der Film stilistisch eigene Wege gegenüber der literarischen Vorlage. Ein Bilderrätsel gewaltigen Ausmaßes, das sich die selbe Frage stellt wie Prousts Werk - jene nach dem Wesen der Erinnerung. Erwachsenen Zuschauern empfohlen.

Wasser sieht der Zuschauer, und Marcel Proust (1922) auf dem Todeslager in seinem Schlafzimmer. Schwer atmen hört man ihn und das Kratzen der Schreibfeder. Celeste, Prousts Haushälterin, kleidet sich streng wie ein Jüngling. Photos nimmt Proust in die Hand und betrachtet sie durch die Linse einer Lupe: Odette, die verehrte, von Cathérine Deneuve gespielte geheimnisvolle Liebhaberin der Männer von Welt, die Großmutter des Erzählers, andere Gesichter und die Mutter des Erzählers schließlich. Über die Photos hinweg erheben sich Stimmen und Musik, die leitmotivische Sonate von Vinteuil (die, fiktional in Prousts Werk, für den Film nach den angenommenen Vorlagen von Jorge Arriagada komponiert wurde), ein altes Photo von Gilberte, die der Erzähler als Junge liebte.

Ein Schnitt führt den Film unvermittelt zum Künstler Morel (1916) im bürgerlichen Salon der Madame Verdurin. Es ist die Zeit des Ersten Weltkrieges und des letzten Bandes "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", "Die wiedergefundene Zeit" tituliert. Morel provoziert die Gesellschaft, indem er die Deutschen Tänze von Beethoven spielt. Eine Szene, in der die erwachsene Gilberte (Emanuelle Béart, 1914) eine Rolle spielt, geht dem Verdurinschen Salon voraus. Gilberte empfängt den Hausfreund, den Erzähler Marcel (Marcello Mazzarella) und ihren Ehemann Robert de Saint-Loup (Pascal Greggory) im Kostüm der Schauspielerin Rachel, mit der dieser sie betrügt.

Die Gesellschaft des Empfanges steigert sich zu einem fantasmatischen Reigen. Odette geht hinaus in ein gleißendes Licht, der Erzähler als kleiner Junge durchquert den Raum, nunmehr voller Hüte, er betrachtet die Projektionen einer Laterna magica, ein Kalb wird geschlachtet in einem Film, Bilder überlappen sich, es öffnen sich Türen zu anderen Zeiten, Erinnerungen aus der Kindheit, anderen Büchern des Romanzyklus. Die Maße der Räume wachsen zu surrealen Dimensionen an, wie ein Kapitelende ragt der Glockenturm von Combray aus dem Bild, eine Orientierungsmarke der ausgedehnten Spaziergänge in der Kindheit, ein Fluchtpunkt des Weißdornweges, der im Krieg zur Demarkationslinie geworden ist.

Der Regisseur Raúl Ruiz wandert mit seinem Kameramann Ricardo Aronovich und seinem Drehbuchautor Gilles Taurand durch den letzten Band von Prousts "A la recherche du temps perdu" in der Sicherheit der Worte, mit denen sie den Film beschließen, denen zufolge der Todesengel dem Bildhauer Salvini zu verstehen gab, dass ein Kunstwerk zu betrachten, in dem das Leben der Menschen enthalten wäre, eine Ewigkeit dauern würde. Vom letzten Proustschen Band aus die vorhergehenden fragmentarisch zu erfassen heißt, dem Verfall eine andere Bedeutung zu geben: Zweifel, Verrat und Krieg, der gealterte Baron du Charlus auf dem Champs-Elysées des Jahres 1928 und die senile Madame de Verdurin, die zuletzt doch noch Prinzessin von Guermantes geworden und den Adel dadurch unwiederbringlich untergehen ließ, bilden eine brüchige Brücke zur modernen Welt, ohne die Transformationen, denen Proust den Boden bereitete, erfassen zu können.

Mag Gilles Taurand auch erstaunlich genau die Motorik der Erzählung dieses letzten Proustschen Bandes rekonstruiert haben, mag Raúl Ruiz durch die Figur des historischen Marcel Proust einen Weg gefunden haben, Leben, Werk und poetologische Reflexion mit Gewinn zu verschränken: Der Surrealismus, das Instrument der Ruizschen Bilder, arbeitet assoziativ, wo Prousts Sprache analytisch ist, seine Symbole sind Spezifika des Raumes und nicht durchlässig für die Phänomene der Zeit, an denen es Proust gelegen ist.

Frankreich, Italien, Portugal 1999 - Produktion: Gemini Films, France 2 Cinéma, Les Films du Lendemain, Blu Cinematographica, Madragoa Filmes - Produzent: Paulo Branco - Verleih: Filmladen - Länge: 157 min. - Regie: Raúl Ruiz - Buch: Gilles Taurand, Raúl Ruiz nach dem gleichnamigen Band des Romans von Marcel Proust - Kamera: Ricardo Aronovich - Schnitt: Denise de Casabianca - Musik: Jorge Arriagada - Darsteller: Cathérine Deneuve, Emmanuelle Béart, John Malkovich, Marcello Mazzarella, Pascal Greggory, Vincent Pérez - BBWK: nicht eingereicht - Prädikat: nicht eingereicht

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