Der Anfang vom Ende des Kinos

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Bereits als das Fernsehen den Siegeszug antrat, wurde das Kino totgesagt. Vor wenigen Jahren begannen "Netflix" & Co auch hohe Filmkunst zu finanzieren. Das verändert die Kinolandschaft nachhaltig.

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Bereits als das Fernsehen den Siegeszug antrat, wurde das Kino totgesagt. Vor wenigen Jahren begannen "Netflix" & Co auch hohe Filmkunst zu finanzieren. Das verändert die Kinolandschaft nachhaltig.

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Begonnen hat alles mit einem ziemlich effektiven Schachzug: Bei den Programmgestaltern der Streaming-Anbieter Amazon Studios und Netflix ist man -nach der erfolgreichen Besetzung und Neudefinition verschiedener TV-Serien-Genres -dazu übergegangen, auch die hohe Filmkunst zu fördern. Verdiente Filmemacher wie Jim Jarmusch, Woody Allen, Guillermo del Toro oder Martin Scorsese erhielten von Netflix Blankoschecks für ihre Projekte, für die sie kurz davor noch bei den etablierten Studios Klinken putzen mussten. Denn selbst (oder gerade) für etablierte Filmkünstler ist es in der Vergangenheit zunehmend schwieriger geworden, ihre Filme zu drehen. Die Studios investierten ihr Geld lieber in Filme, die für das einzig verbliebene, treue Kinopublikum konzipiert waren: 18-bis 21-jährige Teenager, die in den USA in diesem Alter offiziell noch keinen Alkohol trinken dürfen und ihre Wochenenden darob oft bei Nachos und Cola in den Multiplex-Tempeln des Landes verbringen. Klar, dass sich diese Zielgruppe lieber "Captain Marvel" ansieht als den neuen Jarmusch. Aber auch sie werden gerade flügge, weil die Netflix-Welt das Kinogehen überflüssig macht.

Lange also mussten die Filmkünstler auf anständige Arbeitsbedingungen warten, und mit Netflix oder Amazon schien plötzlich der Heiland gekommen: Streaming-Dienste, die das Scheckbuch zückten, ohne mit der Wimper zu zucken und noch nicht einmal wissen wollten, was im Drehbuch steht. Willkommen im Paradies.

Oscars von "Gravity" bis "Roma"

Dass unter der Vielzahl an Produktionen nicht nur Perlen sind, liegt auf der Hand -selbst arrivierte Filmemacher liegen manchmal daneben. Woody Allen bezeichnete etwa seine Miniserie "Crisis in Six Scenes", die er für Amazon drehte, als den größten Mist seiner Karriere. Aber es gibt sie eben doch, diese Perlen, die ohne dem Budget der Streamingdienste wohl nie entstanden wären. Der Mexikaner Alfonso Cuarón zum Beispiel hat schon 2013 bewiesen, dass er großes Kino kann, zumindest solches, das Hollywood als groß empfindet: Mit "Gravity", in dem George Clooney und Sandra Bullock durchs All torkelten, holte er zwei Oscars -ein Ritterschlag der Filmindustrie. Doch anstatt weiterhin sichere Nummern zu inszenieren, zog sich Cuarón auf das zurück, was er eigentlich ist: Ein Autorenfilmer, der sich filmisch ausdrücken will, ohne auf Zuschauerzahlen Rücksicht zu nehmen. Und wer hat ihn finanziert? Richtig: Netflix.

"Roma", Cuaróns schwarzweiße Jugenderinnerungen aus dem Mexiko der frühen 70er Jahre, hatte seine Premiere vergangenen September beim Filmfestival in Venedig, wo der Film den Goldenen Löwen gewann. Als erster Netflix-Film überhaupt. Zuvor wurde "Roma" bereits eingeladen, seine Premiere in Cannes zu feiern, jedoch konnte Festivalchef Thierry Frémaux dem Film nur einen Platz "außer Konkurrenz" anbieten, weil eine neue Regelung des Festivals verbietet, Netflix-Produktionen im Wettbewerb zu zeigen. Der Hintergrund: Cannes verlangt für seine im Wettbewerb gezeigten Filme einen zwingenden Kinostart in Frankreich, den Netflix als Streaming-Anbieter eben nicht will; ergo bleiben Netflix-Filme künftig ausgesperrt. Cuaróns Siegeszug hat das aber nicht aufgehalten, sondern eher beflügelt. Bis zu den Oscars heimste der Film unzählige Preise ein, und Cuarón nahm in der Oscar-Nacht gleich drei Trophäen (Kamera, Regie, bester fremdsprachiger Film) mit nach Hause. Netflix ist dort angekommen, wo es hin will: Zu Ehren und Prestige für die eigenen Produktionen, die ihnen bislang verwehrt blieben.

"Roma" ist unter diesem Aspekt nicht nur seiner Qualität wegen ein wichtiger Film. Er könnte sich auch als der Totengräber für das Kino, wie wir es bisher kannten, erweisen: Netflix hat es mit einer für das eigene Programm konzipierten Produktion bis zu den Oscars geschafft. Und das ging nicht ohne Zuhilfenahme des Kinos: Wer die Chance auf eine Nominierung bei den Oscars haben will, muss zumindest eine Woche lang in einem Kino im Großraum Los Angeles gelaufen sein. Netflix hat, obwohl ursprünglich nicht vorgesehen, "Roma" für eine Woche in ausgesuchten Städten im Kino gespielt, eine glasklare Alibiaktion, um die Nominierung zu ermöglichen. Das Kalkül ging auf, "Roma" wurde mit Nominierungen überhäuft.

Kinoverwertung nicht mehr notwendig

Die Filmbranche ist also gerade Zeuge ihrer eigenen Neuausrichtung geworden: Ein Kino-Release ist für viele Produktionen gar nicht mehr realistisch, weil eben auch teuer; große Player wie Netflix, die über das nötige Budget verfügen, zeigen ihre Filetstücke für eine kurze Zeit im Kino, um sich für Awards zu qualifizieren, doch sonst steht das Kino nicht auf ihrer Liste: Die Verwertungsketten von Filmen geraten völlig durcheinander, oder: Sie werden einfach neu erfunden. Früher lief das so: Ein Film kam ins Kino, dann ein halbes Jahr später als DVD heraus, und schließlich ins (Pay-)TV. Heute zeigt Netflix eine neue Produktion bei einem Filmfestival und macht sie quasi zeitgleich für seine Abonnenten online zugänglich. Dass bei dieser Art der Distribution (nicht nur) das Kino auf der Strecke bleibt, liegt auf der Hand. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 2018 brach das Zuschauerinteresse völlig ein, man verzeichnete bis zu 16 Prozent weniger Kinobesucher in Österreich und Deutschland, im Vergleich zu 2015 waren es gar minus 28 Prozent. Schuld war daran nicht nur die Fußball-WM, sondern vor allem Netflix.

Die neue Praxis gefährdet das Kino als Sehnsuchtsort, denn wer verlässt freiwillig das Wohnzimmer, wenn er den gleichen Inhalt auch online streamen kann, in bester Qualität und sogar zum Flate-Rate-Preis? Als Nächstes dürfte auch das konventionelle Fernsehen leiden, da die Streamingdienste werbefrei sind. Die audiovisuelle Industrie steckt mitten im größten Umbruch seit der Einführung des Tonfilms. Nur, dass die Revolution diesmal keine kreativen oder technischen Neuerungen bringt, sondern bloß einen anderen Distributionskanal, der dabei ist, alle etablierten Wege in den Abgrund zu reißen.

Was aber heißt das für die Filmkunst? Ist es nicht gerade das Streaming-Fernsehen, das heute diese Filme ermöglicht? Welche Rolle werden Filmfestivals in Hinkunft spielen? Als die Schaufenster der Weltkinoproduktion werden sie kaum an Bedeutung verlieren - es sei denn, sie verweigern sich weiterhin den neuen Big Playern. Im Mai wird man sehen, wie man in Cannes mit dem Netflix-Bann weiterhin verfährt; ob sich das Festival ein zweites Jahr leisten kann, in der die mit Stars vollgestopften Netflix-Premieren dann lieber nach Venedig ziehen?

Kino-Zukunft Minderheitenprogramm

Man sieht: Jeder kämpft hier ums Prestige. Und: Niemand ist unabhängig vom anderen: Cannes braucht Netflix ebenso, wie Netflix Cannes braucht. Ein schmerzvoller Lernprozess für die gesetzten Damen und Herren einer kulturellen Instanz wie es das Festival an der Croisette ist.

Und Österreich? Auch hier grassiert das Streaming-Virus: Sky stampfte mit "Der Pass" eine Serie in Top-Besetzung (unter anderem mit Nicholas Ofczarek) aus dem Boden, die weder budgetär noch von ihrer Konzeption je vom ORF gemacht worden wäre. Doch auch der ORF macht längst gemeinsame Sache mit Netflix und arbeitet derzeit an der Fertigstellung von Marvin Krens Serie "Freud". Hochkarätig, das ist das neue Lieblingswort der TV-Macher.

Bleiben noch der künstlerische Nachwuchs und die Ränder der Filmkunst, die man meistens nur auf Festivals zu Gesicht bekommt. Die Diagonale zeigt in diesem Jahr auch wieder etliche Spiel-und Dokumentarfilme, die teilweise mit sehr wenig Budget gefertigt wurden; ein handgemachtes Kino fernab von konstruierter Stangenware, eine alternative Welt in der glitzernden des Streaming-Fernsehens. Vielleicht ist das die Rettung des Kinos: Sich letztlich auf ein Minderheitenprogramm zu spezialisieren. Genau auf diese Weise hat ja auch die oft totgesagte Schallplatte bis heute überlebt.

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