Der "Flexecutive" und der Cyberspace

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Der flexible, prinzipiell stets zur selbstbestimmten Arbeit in Eigenverantwortung bereite Mensch wird als Prototyp der Informations- oder Wissensgesellschaft bezeichnet. Man hat auch schon einen Namen für ihn gefunden: "Flexecutive". Er brütet nicht nur ständig Projekte aus, sondern ist selbst ein Projekt, das jede allzu enge, weil belastende Verpflichtung scheut - schließlich will man frei sein von Ballast. Und wenn doch eine Beziehung glückt, aus der ein Kind entsteht, dann arbeiten möglichst beide weiter an ihren Projekten, während die Kinder früh zur Selbständigkeit erzogen werden sollen, indem man ihnen alle möglichen Betreuungen und Aktivitäten angedeihen läßt, für die man selbst keine Zeit hat.

Diese Haltung hat ihren Preis. Die britische Mental Health Foundation hat im Rahmen eines dreijährigen Forschungsprojekts, das angeblich die umfassendste Untersuchung der geistigen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sein soll, im Frühjahr 1999 erste Ergebnisse veröffentlicht, die zumindest zeigen, daß bei unserer Lebensweise nicht alles zum Besten steht: Bis zu 20 Prozent der Kinder leiden angeblich an psychischen Problemen, und zehn Prozent bedürften professioneller Hilfe. Bei den Vier- bis 20jährigen stehen offenbar Angststörungen im Vordergrund. Auch einer von fünf Erwachsenen leidet an psychischen Krankheiten.

Die Krankheit der Aufmerksamkeitsschwäche (Attention Deficit Hyperactivity Disorder - ADHD), die in einer Wissensgesellschaft besonders problematisch ist und womöglich durch heftigen Mediengebrauch und frühes Multitasking mitverursacht oder verstärkt wird, spielt bei den psychischen Störungen natürlich eine prominente Rolle. Amerikanische Schätzungen gehen dahin, daß allein zwischen fünf und zehn Prozent der Jugendlichen an ADHD leiden. Die Zeitschrift Time (30.11.98) nannte unsere Zeit gar das "Ritalin-Zeitalter", da dieses Medikament immer häufiger eingesetzt wird, um die Aufmerksamkeitsstörung oder überhaupt unruhige Kinder zu behandeln, die in der Schule Schwierigkeiten haben ... Auch die Kinder haben nicht mehr viel zu lachen, während sie lernen, sich der Wissensgesellschaft anzupassen, der oft nicht sehr viel mehr einfällt als der Slogan "Schulen ans Netz". In der globalen Gesellschaft soll es möglichst nicht mehr Nacht werden und alles 24 Stunden täglich in Betrieb sein. Im Internet gehen die "Lichter" nie aus - surfen, kaufen, arbeiten kann man im Cyberspace zu jeder Zeit. Das fügt sich nahtlos in den Trend ein, die Unterschiede der Zeitzonen und die biologischen Rhythmen zu übergehen. Wer jemals "Jetlag" hatte, weiß, was das mit Körper und Psyche anrichten kann ...

* Die Freizeit- und Konsumgewohnheiten ändern sich, da die Menschen mehr und mehr die Erwartung haben, alles zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben. Auch Internet-Nutzer sehen ab und zu fern oder lesen Zeitung - der gesamte Medienkonsum wird also immer höher. Gespart wird an der Schlafzeit, der einzigen wirklich noch verfügbaren Zeit. Die Schlafforschung hat daher allen Grund, nach Wegen zu suchen, wie sich die biologisch bedingten ""Zwänge" abbauen ließen, um mehr Leistung und Flexibilität durch eine Erweiterung der Wachzeit zu ermöglichen. Am Center for Biological Timing in Virginia hat man z. B. die Nervenzellen aus dem Hypothalamus, die für die biologische Uhr verantwortlich sein sollen, aus den Gehirnen von Mäusen entfernt, sie noch lebend in eine Nährlösung gegeben und mit Elektroden verbunden. Die Zellen gaben weiterhin die regelmäßigen elektrischen Impulse ab, mit denen die biologische Uhr den Tagesrhythmus bestimmt, der dann noch mit der Lichteinstrahlung abgeglichen wird. Man hofft damit, wie Gene Block, der Leiter des Forschungsprojekts, sagt, den Mechanismus der biologischen Uhr besser zu verstehen, so daß es möglich wird, sie mit Medikamenten zu beeinflussen: "Daher konnen wir die Hoffnung hegen, die Phase eines Nachtarbeiters so zu verändern, daß er während seiner ganzen Schicht aufmerksam sein kann."

Auch Schlafstörungen oder Jetlag konnen damit besser behandelt werden. Wie so oft sollen also durch neue wissenschaftlich-technische Entwicklungen die Symptome beseitigt werden, die durch unsere Lebensweise oder ökonomische Zwänge entstehen. Man paßt den Menschen an die Verhältnisse an.

* Der Neurophysiologe und Schlafforscher Stanley Coren konstatiert in seinem Buch "Die unausgeschlafene Gesellschaft"(1999) ..., daß wir ständig übermüdet sind und in einer Gesellschaft leben, in der das Wach- und Aktivsein alles ist, in der überdies der Kampf um die energieverzehrende und knappe Aufmerksamkeit der chronisch Müden immer heftiger geführt wird. Alljährlich entstünde allein in den USA nach einer Studie für das Jahr 1998 durch auf Schlafmangel zurückzuführende Fehlentscheidungen und Unfälle ein direkter Schaden von über 56 Milliarden Dollar, eine Zahl, die Coren für viel zu niedrig hält. 25.000 Todesopfer und 2,5 Millionen Schwerverletzte seien jedes Jahr in den USA das Ergebnis der unausgeschlafenen Gesellschaft. Welche negativen Folgen die ständige Anbindung an die Medien langfristig auf das Aufmerksamkeitssystem und damit auf die kognitive Leistungs- und Lernfähigkeit ausübt, weiß man noch nicht. Im nächsten Jahrhundert werden wir damit womöglich leidvolle Erfahrungen machen.

Enge Beziehungen kosten viel Zeit und behindern die Individualisierung. Also Schluß damit, es gibt ja die Telemedien. Computernetze erlauben ortsungebundene und jederzeit abzubrechende Freundschaften, die man auch während der Arbeit aufrechterhalten kann. Da man im Netz arbeiten, lernen und shoppen kann, schwindet die alltägliche Notwendigkeit, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Telebeziehungen vermindern den sozialen Druck und bringen neue Umgangsformen sowie Erwartungen hervor, die der Individualisierung entsprechen und ein Entkommen aus der Enge der Nahgemeinschaften bieten. Bekannt ist etwa, daß bei E-mails oder in Chats die Barrieren schwinden, man z. B. schnell einmal beleidigend auf einen anderen reagiert, was man "flamingÇ nennt. Unter der Bedingung der Anonymität fällt es den Menschen leichter, neue Verhaltensweise auszuprobieren oder sich auch eine andere Online-ldentität zuzulegen.

Selbst die Sexualität verlagert sich dank neuer Techniken allmählich ins Netz. Eine Vielzahl von Optionen stehen jederzeit ohne Verpflichtungen zur Verfügung. Der Flexecutive der Zukunft wird immer weniger Bereitschaft und vielleicht auch die psychische Fähigkeit mitbringen, langfristige Beziehungen mit all den daraus entstehenden Verpflichtungen noch eingehen zu können und zu wollen. Trifft man beim Chatten oder irgendwie sonst jemanden im Internet, kann man sich schnell einmal in eine "private point-to-point Verbindung" zurückziehen, was andererseits heißt, daß die Versuche einer Anmache zunehmen, aber womöglich die Anmachrituale wegen der geographischen Distanz und der geringen Verpflichtung schrumpfen werden.

Cybersex beschränkte sich bislang auf den Austausch von Worten oder auf das Zuschauen bzw. Vorführen. Die Körper blieben getrennt, körperliche Stimulation verschafften sich die Telegeschlechtspartner über Masturbation. Noch rücken die Körper nicht wirklich zusammen, doch kann man seit April 1998 mit den "cyberdildonicsÇ von SafeSexplus (http://www.safesexplus.com/) immerhin seinen Körper bzw. sein Geschlechtsteil bereits ein Stück weit einer anderen Person überlassen, von der die an den Computer angeschlossenen Stimulatoren oder Vibratoren allerdings noch recht unsinnlich mit der Maus gesteuert werden. Dabei können die Sexhungrigen, die die Intimität auf Distanz schätzen, wenn sie denn wollen und können, noch chatten und sich überdies mit WebCams gegenseitig sehen.

Safe Sex ist es tatsächlich, was angeboten wird: sexuelle Erregung mit einem Partner ohne Gesundheitsgefährdung - und auch sonst ohne aufdringliche Präsenz im Bett oder sonstwo, wo einen die Lust überfällt ...

Und je einfacher, schneller und lebensechter die Intimität auf Distanz sein wird, desto schwieriger werden es möglicherweise kontinuierliche Beziehungen im wirklichen Leben haben - vor allem dann, wenn sie sich in Gesellschaften mit strengen moralischen Regeln abspielen. Das könnte sich langfristig als Implosion für die soziale Integration erweisen. Womöglich sind alle sozialen Verbände von der Familie über lokale Gemeinschaften bis hin zu Nationalstaaten mit der von der Wissensgesellschaft geforderten Flexibilität nicht mehr vereinbar. Die Zukunft könnte in temporären Interessengemeinschaften liegen, die sich über weite Entfernungen hinweg über die Netze finden könnten, aber auch schnell wieder wie wechselnde Grüppchen zerfallen.

Kompensiert würde die Flexibilität durch soziale Dienstleistungen, die gekauft werden müssen und nicht mehr z.B. von der Familie kostenlos erbracht werden. Da zudem die sozialstaatlichen Solidarmechanismen bröckeln, wird in der Wissensgesellschaft die individuelle Krankheits- und Altersvorsorge immer wichtiger, was desto problematischer ist, da gleichzeitig das medizinische Wissen wächst und das Leben immer länger wird.

* Schon jetzt droht eine allmähliche Vergreisung der Weltbevölkerung, die neben den Finanzierungsproblemen eine weitere Krise mit sich bringen könnte: die Bremsung der Produktivkraft des Wissens und die Flexibilität der Menschen durch die Überalterung. Neben sozialen Konflikten zwischen Gewinnern und Verlierern stellt die Vergreisung durch das wachsende Erlahmen der Innovation die größte immanente Grenze der Wissensgesellschaft dar. Egal, wie körperlich fit die Alten sein mögen, sie wollen nicht mehr jede neue Entwicklung begeistert aufnehmen und sich ins Risiko stürzen.

Ist in der Wissenschaft schneller Ideenwechsel oder in der Wirtschaft schneller Produktwechsel eine notwendige Bedingung der Beschleunigung, so in der biologischen Evolution ein möglichst schneller Generationenwechsel. Bislang war die junge Generation stets in der Überzahl und hat für den notwendigen Druck auf kulturelle Evolution gesorgt. Mit der Umkehrung der Alterspyramide sind diese Zeiten vorbei.

BUCHTIP ZUM THEMA Der Auszug aus der alten Welt Politik noch krampfhaft nach Antworten auf die neuen Entwicklungen in der Wirtschaft sucht, hat der Einzug in eine neue, andere Welt bereits begonnen. Die virtuelle Metropole "Cyberspace" wird in den nächsten Jahrzehnten weltweit das Leben und damit auch die Menschen selbst verändern. Ob gesellschaftliche Tätigkeiten, Institutionen, aber auch menschliche Gefühle und Leidenschaften - nichts bleibt, wie es derzeit ist.

So beschreibt jedenfalls Florian Rötzer, freier Publizist und Kenner der Netzkultur, in seinem Buch "Megamaschine Wissen" die Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte. Wie das Vordringen von Virtualität und Cyberspace unsere gesamte Kultur verändern (wird), zeigt der folgende Auszug.

Megamaschine Wissen. Vision: Überleben im Netz. Von Florian Rötzer, Campus Verlag, Frankfurt 1999, 263 Seiten, öS 263,-/e 19,11,

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