"Die Propaganda der USA"

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Japanexperte Florian Coulmas über das US-Narrativ zum Atombombenabwurf und seine Skepsis, einer Abrüstung bei dauernder Aufrüstung zu vertrauen.

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Japanexperte Florian Coulmas über das US-Narrativ zum Atombombenabwurf und seine Skepsis, einer Abrüstung bei dauernder Aufrüstung zu vertrauen.

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Es war vor zehn jahren, als der Journalist schon einmal mit dem bekannten Linguisten und Japankenner Florian Coulmas über die Ereignisse von Hiroshima und die Lehren aus dem Atombombenabwurf sprach. Nun gabe es ein Wiedersehen und damit die Gelegenheit zum politischen und kulturellen Resumee.

Die Furche: Vor zehn Jahren zum 60. Jahrestag von Hiroshima haben Sie am Ende unseres damaligen Gesprächs gesagt: "Jetzt wäre noch einmal Gelegenheit, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Insgesamt nimmt das Interesse an Hiroshima aber erschreckenderweise ab." Zehn Jahre später, sehe ich Hiroshima völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden - täuscht mich dieser Eindruck?

Florian Coulmas: "Ich sehe das ähnlich, obwohl es einige Entwicklungen gibt. Es heißt immer, was geschehen ist, ist geschehen, und das kann man nicht verändern. Das stimmt auf der Ebene des Faktischen, aber nicht auf der Ebene der Bewertung der Fakten. In diesen zehn Jahren hat es zumindest ein bemerkenswertes politisches Ereignis gegeben: Immerhin ein japanischer Verteidigungsminister hat öffentlich bekannt, dass die Atombomben auf japanische Städte unvermeidlich gewesen seien. Er musste dafür natürlich zurücktreten, aber es zeigt, wie unglaublich erfolgreich die amerikanische Propaganda ist. Wenn sogar in den allerhöchsten Etagen der japanischen Politik diese Auffassung um sich greift, dann kann man sich vorstellen, wie die Bevölkerung und vor allem die junge Generation zu Hiroshima steht.

Die Furche: Wie?

Coulmas: Die Meinung ist: Na ja, das musste eben sein und letzten Endes ist es viel besser, dass wir mit den Amerikanern gute Freunde sind. Das die US-Botschafterin voriges Jahr an den Gedenkfeierlichkeiten am 6. August teilgenommen hat, zeigt auch, dass die Bewertung Hiroshimas immer mehr in Richtung eines fatalen Schicksalsschlags geht. Gleichzeitig bleiben die USA bei ihrer Haltung: Keine Entschuldigung für Hiroshima und Nagasaki.

Die Furche: Hiroshima war 1945 der erste Akt im Kalten Krieg - begibt sich Japan in der heutigen angespannten Situation mit Russland, mit China auch wieder lieber unter den Schutzschirm USA und nimmt dafür auch diese Geschichtsrevision in Kauf nimmt?

Coulmas: Das ist sehr wahrscheinlich. Die japanische Regierung unter Premier Shinzo Abe zielt darauf ab, die Allianz mit Amerika zu verwenden, um sich von dieser Allianz zu befreien.

Die Furche: Eine zumindest auf den ersten Blick paradoxe Strategie?

Coulmas: Ja, aber genauso ist es. Die konservativen Kräfte in Japan leiden nach wie vor unter der mangelnden Souveränität des Landes. Amerika hat ihnen eine Verfassung aufgezwungen und von der weichen sie, in Übereinstimmung mit den USA, kontinuierlich immer mehr ab. Denn diese Verfassung verlangt absolute Friedenspolitik und verbietet schon jegliche Androhung von Gewalt. Das Ziel ist auf Augenhöhe mit dem Partner der Allianz zu stehen und nicht als untergeordneter Erfüllungsgehilfe amerikanischer imperialer Politik.

Die Furche: Sie sagen, die USA selbst wollen die von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg Japan auferlegte pazifistische Verfassung verändern?

Coulmas: Seit vielen Jahren drehen die Amerikaner jeder japanischen Regierung den Arm um, damit diese die Verfassung ändert. Aber die Stimmung in der Mehrheit der japanischen Bevölkerung ist nach wie vor vollkommen dagegen. Zynisch gesagt wird jede kleine Krise genutzt, um ein Stückchen der japanischen Friedenspolitik abzuschneiden. Einmal ist es Nordkorea, dann ist es Russland oder das immer stärker werdende China Alle diese Gelegenheiten werden genutzt, um die Verfassung von innen auszuhöhlen. Zu einer richtigen Revision der Verfassung nach den parlamentarischen Prozeduren reicht es nach wie vor nicht. Man braucht dafür eine Zweidrittel-Mehrheit plus ein Plebiszit. Über diesen aktuellen politischen Ereignissen verschwindet natürlich Hiroshima, ganz zu schweigen von Nagasaki völlig im Hintergrund.

Die Furche: Die japanische Seite hat die amerikanische Erzählung absolut akzeptiert, deshalb kann heute die USA offiziell an diesen Gedenkveranstaltungen teilnehmen?

Coulmas: Was Sie sagen, ist tendenziell richtig, aber so explizit sagt das niemand. Die Möglichkeit, die Dinge beim Namen zu nennen, zu sagen, Hiroshima und noch viel mehr Nagasaki waren große Kriegsverbrechen, das ist weg vom Horizont. Das wird es nie mehr geben. Der Diskurs handelt von einem unvermeidlichen Unglück, an dem die Japaner selbst schuld waren. Warum das die Zivilisten in diesen beiden Städten getroffen hat, kann niemand erklären, aber so wird die Geschichte eben heute erzählt. Das Unwissen unter japanischen Schülern und Studenten ist erschreckend. Eine differenzierte und dem Gegenstand gerecht werdende Würdigkeit rückt damit immer weiter in die Ferne. Außer und vor allem in Hiroshima, das seine Identität daraus bezieht.

Die Furche: Weil die Überlebenden wegsterben?

Coulmas: Stimmt, es sind nicht mehr viele. Aber immer noch werden Leidtragende der zweiten Generation anerkannt, gegen vehementen Widerstand des japanischen Staates. Der hat sich von Anfang an in einer Art Tabuhaltung dagegen gestellt.

Die Furche: Laut Japans Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe gab es keine nationale Hilfe für die Atombombenopfer, sondern diese waren auf städtische Initiativen und die Hilfe von Privatpersonen angewiesen ...

Coulmas: ... das ist schwer verständlich, wobei in den ersten Jahrzehnten nach 1945 gab es überall viel zu tun, die anderen Städte waren ja auch alle kaputt, sodass man keine besondere Aufmerksamkeit auf Hiroshima und Nagasaki gerichtet hat. Aber Oe sagt ja zurecht, dass hier ein gezieltes Wegschauen praktiziert wurde. Die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki sind unermüdlich und tun ihr Bestes daran zu erinnern, aber ich sehe keinen wesentlichen Einfluss auf die Politik.

Die Furche: Kann man zumindest sagen, dass die abschreckende Wirkung von Hiroshima bis heute eine stabilisierende Wirkung auf die weltweite Sicherheitspolitik ausübt?

Coulmas: Da habe ich meine Zweifel. Deshalb, weil die nukleare Rüstung ja keineswegs stehen geblieben ist. Die Atommächte und vor allem die USA arbeiten an der Miniaturisierung von Atombomben. Um punktgenau kleinere Ziele mit geringerem Schaden vernichten zu können. Das heißt letzten Endes, den Einsatz von Atombomben mehr möglich zu machen.

Die Furche: Ihre Prognose für unser nächstes Gespräch in zehn Jahren: Wird 80 Jahre nach 1945 Hiroshima noch ein Thema sein?

Coulmas: Hoffen wir nicht!

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