Domins Gegenwelt

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Altes und Neues in einem Gedichtband von Hilde Domin.

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Altes und Neues in einem Gedichtband von Hilde Domin.

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Lesen ist Reisen, und Lyrikbände sind Reiseführer und Treffpunkte für diese Erkundungen in einem. Lyriker erschaffen die Welt neu, setzen sie mit ihren Stimmungsbausteinen und Gefühlsfragmenten neu zusammen. Hilde Domin ist eine jener Lyrikerinnen, die am längsten bauen. Die jüngste Reise dieser großen alten Dame der deutschsprachigen Literatur ist eine neu zusammengestellte Route, die jedoch auch über das bisher Bekannte hinausführt. Der Band "Der Baum blüht trotzdem" enthält bisher unveröffentlichte Gedichte und einige, die bislang nur im Band "Ich will dich" und in "Gesammelte Gedichte" erschienen sind.

In der Welt der Hilde Domin müssen die Wege selbst gefunden werden und sind nicht immer durch einen roten Faden gekennzeichnet, die Sehenswürdigkeiten drängen sich nicht auf, sondern entfalten oft ihre Schönheit und Tiefgründigkeit erst lange nach dem Besuch, sprich Lesen.

Das Reisetempo wird bereits im ersten Gedicht vorgegeben. "Sei langsam/ So sitze ich hier/ hoch über dem Meer/ blau grün fern/ deinen Stift in der Hand". Und die Reisenden müssen nicht nur kundig in der Geographie der Seele sein, sondern auch und immer mit der Historie rechnen. Denn bei Domin sitzen auch "die Jahrhunderte in den Regalen und spitzen die Ohren", "da ist keiner tot der gelebt hat/ solange du bei mir bist".

Hilde Domin hat Deutschland bereits 1932 verlassen und kam erst nach 22 Jahren Exil zurück. Die erste Station ihrer Flucht war Italien, wo sie in Florenz über die Staatsgeschichte der Renaissance promovierte. 1939 übersiedelte sie nach England, dann in die Dominikanische Republik, wo sie von 1940 bis 1953 in Santa Domingo lebte und ihren Künstlernamen annahm. Zu schreiben begann sie erst mit 39 Jahren nach dem Tod ihrer Mutter: "Mutter dein Tod/ ist unsere zweite Geburt/ nackter hilfloser/ als die erste". 1957 erschien der erste Gedichtband mit dem programmatischen Titel "Nur eine Rose als Stütze".

Lyrik lebt aus der akuten, exemplarischen Erfahrung der Wirklichkeit, wie sie in einem Gespräch mit Schülerinnen erklärte. "Der Dichter ist ein Handwerker, das bringt ihn in eine schizophrene Situation. Sein Erleben und Leiden muß er nur mit den Worten, die er zuläßt, gestalten. Das macht ein Gedicht nachempfindbar, der Leser kann sich mit den Gedanken identifizieren." Das Gedicht wird so als "Augenblick von Freiheit", so auch der Titel ihrer Poetik-Vorlesung 1987, zu einem mächtigen Tor zu einer Gegenwelt. Im Exil war die deutsche Sprache für Hilde Domin immer wesentlich, weil sie nur in ihr schöpferisch sein konnte: "Ich habe mein Leben immer als eine Sprachodyssee, eine Sprachwanderung begriffen. Aber nur in meiner Sprache konnte ich Worte neu prägen."

Das Faszinierende an Domins Lyrik ist, wie sie vorlebt, wie mit Verletzungen umgegangen werden kann. Es ist letztlich ihr Vordringen zum menschlichen Kern. "Wir werden eingetaucht/ und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen/ wir werden durchnäßt/ bis auf die Herzhaut./ Der Wunsch nach der Landschaft/ diesseits der Tränengrenze/ taugt nicht/ der Wunsch den Blütenfrühling zu halten/ der Wunsch verschont zu bleiben/ taugt nicht." Der Wunsch allein genügt nicht, wenn er nicht zur Bitte wird, daß wir trotz und wegen all der Verletzungen "stets von neuem/ zu uns selbst/ entlassen werden".

Das Land, das Hilde Domin mit ihren Worten erschafft, besteht im Augenblick. Ihr Bemühen gleicht einer Kolonisierung des Alltags, um gegen die Zeit bestehen zu können, "dieser Abschöpferin aller Freude". Die unerbittliche Zeit läßt uns ungeschmälert nur die Tränen, heißt es in einem Gedicht im neuen Band. Lyrik ist eine Einübung ins Reisen, um zum entscheidenden Punkt zu kommen: Wer den nicht erreicht, wird immer ziellos herumirren, so weit er auch fährt, soviel er auch sieht. Der Augenblick des Erlebens, die Fähigkeit, im Augenblick zu leben. Zu diesem wunderbaren Stück Land bricht Hilde Domin auf, das so fern und so nah liegen kann: "Nur die klingende/ bis zur äußersten/ Haut des Herzens gespannte/ Stunde besteht."

Der Baum blüht trotzdem. Gedichte von Hilde Domin S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999 90 Seiten, geb., öS 218,-/e 15,84

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