Eine Alternative zu Action und Gewalt

19451960198020002020

Es ist nicht unmoralisch, reales Leben zu filmen. Denn Big Brother zeigt Nähe und Beschaulichkeit großer Unübersichtlichkeit.

19451960198020002020

Es ist nicht unmoralisch, reales Leben zu filmen. Denn Big Brother zeigt Nähe und Beschaulichkeit großer Unübersichtlichkeit.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Debatte. Big Brother - nur ein Mediengag?

Zum Thema Fernsehen total. "Big Brother", die Überwachungsshow des Fernsehsenders RTL 2, sorgt für Rekorde bei Einschaltquoten und was die Intensität der Diskussion betrifft. Für alle, die sich dem Rummel um Big Brother entziehen konnten, sei die Aufregung erklärt: Zehn Menschen leben 100 Tage in einem Wohncontainer, werden von Kameras und Mikrofonen überwacht, können ausscheiden und wer überbleibt, bekommt einen Haufen Geld.

Jetzt gibt es in Spanien eine ähnliche Sendung. "El Gran Hermano" bietet den Kandidaten zusätzlich einen Swimmingpool. Den werden die Containerbewohner zur Abkühlung der Gemüter dringend brauchen. Diesem Zweck dient auch die furche-Debatte. Eine sachliche Diskussion in der Hitze des ansonsten oft sehr undifferenziert geführten Gefechts zu bieten. WM Sozialporno", "Knast-TV" oder schlicht "Container-TV": Kommentatoren, Psychologen, Programmacher oder TV-Kritiker haben seit Wochen ein Thema: Big Brother. RTL 2 ist zweifellos die Inszenierung des Medienaufregers des Jahres 2000 gelungen. Was aber regt die Leute so an oder auf bei Big Brother? Oder anders gefragt: Ist es unmoralisch, das reale Leben zu filmen?

Meine These lautet: es ist vielleicht eine Frage der Spannung versus Langeweile, aber nicht unmoralisch. Die Provokation des auf RTL 2 laufenden Formats liegt im Ort, im Container, im Titel, und im sozialen Status der Container-Bewohner: Container riecht nach Gefängnis, nach Labor, nach Menschenverachtung, der Titel gemahnt an orwell'sche allgegenwärtige Überwachung und "Zeit für derartige Abenteuer haben doch nur Arbeitslose, die dann auch noch zu Helden stilisiert werden", oh Graus!

Zoomen wir in die Siebziger Jahre: Die BBC, die Urmutter aller öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten produzierte eine Sendung, in der eine Familie in einem Haus durch Kameras beobachtet wurde. Das Format hieß "The Family". Eine Familie ist doch fürwahr etwas Intimeres als eine bunt zusammengewürfelte Gruppe im Stile einer WG, die durch ihre altersbedingte Neugier und Unbefangenheit den Spaß eines TV-Abenteuers sucht.

Warum sucht diese Generation diese Art von Spaß und warum teilen Millionen Zuseher diesen Spaß vor den Bildschirmen? Meiner Meinung nach hat es unter anderem mit veränderten sozialen Lebensbedingungen und Strukturen zu tun: Als Kind verbrachte ich viel Zeit bei meiner Großmutter in der Steiermark. Vor dem Haus befand sich eine Sonnenbank, und allabendlich fanden sich Familie und Nachbarn ein, um Wichtiges und Unwichtiges, Tratsch und Klatsch auszutauschen. Man wußte Bescheid über seine Mitmenschen und seine Umgebung. Im Mietshaus stellte Bassena diese Bank dar. Bösartige Gerüchte nahmen von dort ihren Ausgang, amouröse Verhältnisse wurden breitgetreten, aber jeder hätte gemerkt wenn eine alte Dame einige Wochen nicht aufgetaucht wäre. Die Sonnenbank ist verwaist, die Bassena wich dem Warmwasseranschluß. Wo blieb das Bedürfnis der Menschen nach Nähe, nach Überschaulichkeit in der großen Unübersichtlichkeit?

Was bedeutet Big Brother für den ORF? Wo beginnt die individuelle Verantwortung und Selbstbestimmung, welche Rolle spielt der Sender? Signalisiert Big Brother ein Bedürfnis nach Realismus in der Unterhaltung, nach neuen Kommunikationsformen? Eines ist bei den vergangenen TV-Messen evident geworden: Real-Life-TV-Formate werden uns weiterhin beschäftigen, sie sind im Trend. Ein Trend, der als Alternative zu Action und Gewalt interessant ist! Nicht das Format Real-Life-TV an sich ist verwerflich, die Art der Umsetzung ist eine Frage von Verantwortung. Im täglichen Wettbewerb, die Herausforderung sein Publikum täglich neu zu gewinnen verpflichtet sich der ORF strengen Richtlinien. Qualität, Vielfalt und Niveau sind in der gesamten Programmierung des ORF unabdingbar. Gesetzliche Vorgaben geben Richtung, sie ersetzen aber nicht die ethische, persönliche Verantwortung des Programmverantwortlichen.

Nie darf dieses kommunikative Real-Life-TV die Kunst der Filmschaffenden ersetzen, die jeden Tag das fiktive Leben erfinden und uns Zusehern mit ihrem kreativen Können den notwendigen künstlerischen und damit auch politischen Spiegel vorhalten. Es ist eben die Vielfalt, die unser Leben, unser Zusammenleben und damit auch das Fernsehgeschehen ausmacht. Auf "mein" Medium, das Fernsehen abgewandelt, möchte ich mich dem Theaterregisseur Peter Zadek anschließen, der übrigens in seiner letzten Wiener Festwochen Inszenierung des "Hamlet" einen Container als zentrales, einziges Bühnenelement verwendete: "Was darf Theater? - Alles, nur nicht langweilen!" Eben.

Die Autorin ist ORF-Programmintendantin.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung