Eine letzte - leider falsche - Vorahnung

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Reich-Ranicki: ... aber dass dieses Buch ein gutes Buch wäre, kann ich nicht bestätigen. Dutzende von Seiten werden Gesetzestexte aufgezählt, das interessiert mich nicht. Man kann nicht einmal sagen, was dieses Buch überhaupt ist: Geschichten folgen auf Gesetze, dann wieder ein paar Seiten Lyrik, dann noch epische Briefliteratur ...

Karasek: ... erlauben Sie, verehrter Herr Reich-Ranicki, dass ich Ihnen da widerspreche. Erst jüngst, als ich wieder einmal bei Billy Wilder in Beverly Hills war, haben wir überlegt, wie sehr etwa die Geschichte von Judit und Holofernes trägt: Sie ist so stark, dass sie für ein Hollywood-Großprojekt taugt. Wilder hat mir auch anvertraut: Hätte ihm nicht Cecil B. DeMille in den 50er Jahren die Zehn Gebote weggeschnappt, er hätte den Film selbst gemacht (allerdings nicht mit diesem Charlton Heston als Moses!).

Reich-Ranicki: Lieber Freund Karasek, niemand bezweifelt, dass die Bibel gute Geschichten enthält - damit man mich dann nicht wieder missversteht: ja, wirklich gute! Aber ein paar gute Geschichten machen allein noch kein gutes Buch. Seiten- und kapitelweise hat mich die Lektüre gelangweilt oder geschaudert.

Radisch: Sie müssen aber zugeben, Herr Reich-Ranicki, dass das Buch - so alt es sein mag - beinahe alle kulturgeschichtlichen Entwicklungen antizipierend vorwegnimmt! Also nochmals diese Judit-Holofernes-Story: Was da an emanzipatorischen Bildern geboten wird - mitten in einer männerdominierten Kriegsgesellschaft - ist ja erstaunlich. Und diese knisternd-erotischen Metaphern, mit denen die unschlächtige Gewalt ...

Reich-Ranicki: ... Frau Radisch, es mag ja sein, dass Ihr sinnlicher Erfahrungshorizont noch ausbaufähig ist, aber glauben Sie mir: In meinem Alter weiß man genau, was erotisch ist!

Radisch: - (schweigt versteinert).

Gast: Darf ich darauf hinweisen, dass die Bibel viel mehr ein großes Religionsbuch darstellt als eine erotische ...

Reich-Ranicki: Sie dürfen nicht!!! Wir sprechen hier über Literatur und nicht über Traktate ...

P.S.: Dieses vorgeahnte Gespräch findet nicht statt. Denn das allerletzte Literarische Quartett (auf ORF 2 am 16. Dezember) wird sich nicht mit der Bibel, sondern nur mit Goethes "Werther" befassen.

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