"Freiheit auch für Mist"

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Talksshows kommen aus der Mode, Psycho-Shows wie "Big Brother" sind der neue Renner.

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Talksshows kommen aus der Mode, Psycho-Shows wie "Big Brother" sind der neue Renner.

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Die gute Nachricht: Mehr als ein Viertel der Jugendlichen findet Talkshows "uncool". Die schlechte Nachricht: Fast jeder sechste Jugendliche sucht einer deutschen Studie zufolge Orientierung bei den täglichen Talkshows im Fernsehen. Kein Wunder, hat sich doch das Angebot an Talkshows im deutschen Fernsehen infolge steigender Senderzahl und Sendedauer seit 1991 verzehnfacht, von durchschnittlich 38 Minuten auf über sechs Stunden täglich.

Nichtsdestotrotz stecken die auch hierzulande vielgesehenen Talkshows in der Krise: Arabella Kiesbauer & Co verlieren massiv an Zusehern. Hans Meiser etwa, der 1992 auf RTL die erste tägliche Talkshow moderierte, ist von 2,54 Millionen Sehern vor einem Jahr auf 1,56 Millionen abgestürzt. Von den mehr als ein Dutzend deutschen "Daily Talks" konnten nur Bärbel Schäfer und Sabrina (beide auf RTL) ihre Quoten halten.

Während also in unserem Nachbarland die Talk-Welle langsam verebbt, geht es in Österreich am Quasselsektor so richtig los: Seit Herbst vorigen Jahres beglückt auch der ORF die Gebührenzahler mit einem "Daily Talk", der vergleichsweise biederen Barbara Karlich Show. Am 17. Jänner schickte der neue österreichische Privatsender ATV gleich zwei tägliche Talkshows ins Rennen: Speed, ein hysterisches Kasperltheater für 20jährige, moderiert von Hadschi Bankhofer, der vorsorglich via tv-media wissen ließ: "Mich verletzt es, wenn man aus meinem Lustigsein schließt, ich sei dumm und oberflächlich". Für ein Publikum, das den Kampf gegen Pickel und schlechte Schulnoten schon hinter sich hat, ist die Show Talk to me, deren geistiger Gehalt nicht ganz so dünn ist wie Talkmasterin Eva Pölzl.

Da die traditionelle Talkshow dem Narzißmus, dem Exhibitionismus, dem Voyeurismus und der Geltungssucht der Menschen des TV-Zeitalters nicht mehr zu genügen scheint, suchen sich die Fernsehmacher ihr Glück mit neuen Formaten. Mit der Show Big Brother, die am 1. März auf RTL II startet, eröffnen sich ganz neue Dimensionen: Fünf Männer und fünf Frauen verbringen 100 Tage in einem Haus ohne Kontakt zur Außenwelt. Insgesamt 28 Kameras filmen das Leben im Haus rund um die Uhr, nur die Toilette ist tabu. RTL II sendet täglich eine Zusammenfassung des Geschehens. Alle zehn Tage bestimmen die Zuseher via Telefon einen Bewohner, der die Orwell-WG verlassen muß. Wer als letzter übrig bleibt, dem winken fast zwei Millionen Schilling.

In Holland lockte die Psycho-TV-Show bis zu 60 Prozent der für die Werbewirtschaft relevanten Fernsehzuseher vor die Bildschirme, der Gewinner wurde zu einem landesweiten Publikumsliebling. In Deutschland ist Big Brother äußerst umstritten: Politiker und Medienwissenschaftler werfen den Sendungsmachern vor, die Menschenwürde systematisch zu verletzen. "Über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten, die Rundfunkfreiheit gilt aber auch für Mist", gibt Jürgen Doetz, Präsident des Verbandes Privater Rundfunk und Telekommunikation zu bedenken; immerhin nähmen an dem Projekt erwachsene Menschen aus freien Stücken teil.

In Ländern, wo die Trends des Fernsehens gemacht werden, nehmen die grotesken Auswüchse bei Unterhaltungssendungen zu: In Japan mußten nach einem inszenierten Trinkgelage vor laufenden Kameras mehrere Hausfrauen mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Und in den USA boomen Shows, die an die niedrigsten männlichen Instinkte appellieren: In "The Man Show" nuckeln die Moderatoren an Dosenbier, schwafeln über Saufen, Sport und Sex. Schon hat sich eine deutsche Produktionsfirma den Titel "Macho TV" schützen lassen.

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