Grauen kann wachrütteln
Dürfen zur Berichterstattung über sexuellen Missbrauch in TV-Nachrichtensendungen Ausschnitte aus Kinderpornos verwendet werden, wie es Ende September in Italien geschah?
Dürfen zur Berichterstattung über sexuellen Missbrauch in TV-Nachrichtensendungen Ausschnitte aus Kinderpornos verwendet werden, wie es Ende September in Italien geschah?
Als der Film "Peeping Tom" (hierzulande lief er unter dem Titel "Augen des Grauens") mit dem jungen Karl-Heinz Böhm in der Titelrolle in die Kinos kam, erntete er Ablehnung, Entsetzen. Erst später entwickelte er sich zu einem "Kultfilm", und das eher für Angehörige psychosozialer Berufe - zeigt er doch klar, wie Kinder durch sadistische Erziehungsmethoden zu Psychopathen, ja sogar zu Mördern werden (können): Tom, der Fotograf, filmt die Frauen, die er mittels eines in seiner Kamera verborgenen Bajonetts ersticht, im Augenblick ihres Todes. ER will ihre "Augen voll Angst" verewigen. In der Rückblende des Filmes erfährt die Zuseherschaft, dass Toms Vater, ein Psychiater, seinen Sohn nächtens aus dem Schlaf riss, um dessen schreckgeweitete Augen wissenschaftlich zu studieren ...
Wenn wir uns heute fragen: was sind das für Menschen, die Snuffpornos - Pornovideos, in denen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, real gefoltert oder getötet werden - bestellen, kaufen, konsumieren, verschlingen und sich daran geschlechtlich erregen, so können wir vermuten, dass viele davon als Kinder misshandelt, gequält, gefoltert wurden. Ich kann mich noch genau erinnern, wie mir vor Jahren, als ich noch regelmäßig einer breiten Zuhörerschaft im ORF zur Bewältigung ihrer aktuellen Lebensprobleme Rede und Antwort stehen durfte, ein Hörer bedrückt von seiner Hilflosigkeit erzählte, dass seine Schwägerin ihre Kinder stundenlang "zur Strafe" allein in der eiskalten Badewanne sitzen ließ und er ihr nicht verständlich machen könne, was das für die Kleinen bedeute. Umgekehrt habe ich beispielsweise bei Gummifetischisten wohlverdrängte Kindheitsepisoden des Eingeschlossenseins im Kleiderkasten entdeckt, wo sie sich trostsuchend an Vaters Kleppermantel schmiegten.
Auch im Strafprozess gegen den des Frauenmordes für schuldig befundenen Filmemacher Wolfgang Ott wurden die sadistischen Erziehungsmethoden seiner den Zeugen Jehovas ergebenen Eltern thematisiert. Die Bereitschaft zur Opferung der eigenen Kinder taucht ja immer wieder in religiösen Beispielen völliger Gottergebenheit auf und kann von verwirrten Menschen als Aufforderung - oder Rechtfertigung - zur Nachahmung missinterpretiert werden. Blinder Gehorsam bedeutet aber nicht Treue, Loyalität oder Ergebenheit - dazu gehört die bewusste ethische Entscheidung im bewussten Erkennen des Gegensatzpaares Liebe und Hass, Eros und Thanatos, Lebensförderung und Lebensvernichtung.
Heute verlieren immer mehr Menschen ihre Fühlfunktion - ihr Mitgefühl ebenso wie ihr Selbstwertgefühl - und damit die Ganzheit von Körper, Seele und Geist. Dafür werden ihnen vor allem in den audiovisuellen Medien Vor-Bilder möglicher Überkompensation der unerträglichen Unterlegenheitsgefühle angeboten: von der einen Seite kindlicher Unzulänglichkeit auf die andere "cooler" - fühlloser - bis grausamer Dominanz. Von der einen Seite der schmerzerfüllten Ausgeschlossenheit zur anderen der Einigkeit in einer Horde terrorisierender Fremdenhasser.
Abgesehen von ein paar Ignoranten und unbedacht Neugierigen finden wir in der Konsumentenschaft von Snuffpornos überwiegend Männer, die stolz darauf sind, keinerlei Gefühle von Schwäche zu verspüren. Dafür brauchen sie ihr wiederholtes "Training", das ihnen beweisen soll, wie "überlegen" sie sind. Schon Marquis de Sade hat versucht, Gottähnlichkeit durch Überwindung menschlicher - mitmenschlicher - Reaktionen zu erzielen; ähnliche Gedankenzüge finden sich beim "Satanistenpapst" Aleister Crowley, in Texten satanistisch ausgerichteter Popmusiker ... und in manchen rechtsextremen Gedankenzügen.
In einer Medienlandschaft, in der Virtuelles und Reales nicht mehr unterschieden werden kann (darf? soll?), schockiert die Konfrontation mit der Wirklichkeit: sie wirkt nämlich wirk-lich. Das brauchen wir. Auch wenn es unangenehm ist. Graus-lich. Weil es das Gewissen wachrüttelt. Weil es uns erinnert, dass wir alle verletzliche - sterbliche - Menschen sind und keine "Terminators".
Die Autorin, promovierte Juristin, ist Psychotherapeutin und Diplomerwachsenenbildnerin.
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