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Norbert Leser, Diagnostiker und Prognostiker, Wissenschafter und Volksbildner, spannt mit seinen autobiografischen Bekenntnissen einen Bogen über persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Das Buch ist Friedrich Heer gewidmet. Er war sein Vorbild, Mentor wie August Maria Knoll. Vor 20 Jahren schrieb Heer: "Norbert Leser ist der Denker der Koexistenz in der Zweiten Republik Österreich, dies seine Stellung im politischen, im geistigen Raum, dies seine Funktion: erstmalig, in ihrer ganzen Prägung einmalig." Leser wurde wie Heer ein praeceptor Austriae.

Günther Nenning nennt im Vorwort ein Zitat aus Doderers "Dämonen": "Das nämlich heißt Leben. Die Gegensätze in der Schwebe halten." Das kann Leser. Er wird als Diagnostiker der Zweiten Republik fortdauern und als Prognostiker. Dabei war er nie therapeutischer Nihilist, sondern hat Rezepturen ausgestellt. Sein Eintreten für das Mehrheitswahlrecht an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist eines von mehreren Beispielen. Die Wahlrechtsreform Kreiskys hat er folgerichtig als Schritt in die falsche Richtung bezeichnet.

Vom Unikum zum Unikat

Hertha Firnberg war seine persönliche alma mater. Als Rektor und Präsident der Rektorenkonferenz erlebte ich sie freilich anders. 1986 schrieb sie: "Norbert Leser ist heute zweifellos jenen Wissenschaftern zuzurechnen, die über Österreich hinaus internationalen Ruf genießen. Er spricht nicht nur die wissenschaftliche Welt einer Reihe von Disziplinen an, sondern auch Politiker und politisch Interessierte und darüber hinaus breite Kreise eines sehr differenzierten Leserpublikums."

Sie meinte zu seiner Gesamtentwicklung: "Leser hat sich vom Einzelkind zum Einzelgänger, vom Einzelgänger zum Unikum und letzten Endes vom Unikum zum Unikat stilisiert." Auch hier mehrere Und. Er ist ein Kreuzungspunkt und -produkt der verschiedenen Traditionen und Strömungen.

Leser ist ein Solitär. Er ist universell in einer Welt der Spezialisten. Dazu kommt seine Fähigkeit, sich klar und verständlich auszudrücken. So ist er Wissenschafter und Volksbildner, Publizist in mehrfacher Hinsicht.

Ja, der Leser, so hieß es, als wir ganz jung waren. Ja, der Leser, hieß es, als wir älter wurden. Na, der Leser, so heißt es jetzt erst recht. Was macht Leser zum Leser?

Als ich vor mehr als 40 Jahren "Begegnung und Auftrag" las, hatte ich sofort den Eindruck der Unabhängigkeit und moralischen Autorität.

Er hat die Zukunft nicht nur der SPÖ vorausgesagt und dabei Tapferkeit vor dem Freund bewiesen. Er hat eine besondere Art von Zivilcourage und verlässt sich nicht auf den Zeitgeist, sondern auf sein Wissen und Gewissen.

Goldenes Wiener Hirn

Dabei hat er es in seinem Leben nicht leicht gehabt, hat es sich selbst nicht leicht gemacht und manchmal auch anderen nicht.

Sein Buch ist authentisch, aber kein Outing. Es ist kein Denkmal seiner selbst. Es ist vor allem politisch interessant, aber auch eine psychische Selbstbiografie. Die Mutter lässt er als wiederkehrendes Motiv durchtönen. Wer seine Mutter gekannt hat, versteht das; wer Hertha Firnberg als Übermutter gekannt hat, erst recht. Sein Onkel, der Landeshauptmann, und später Kreisky waren Überväter. Und er hatte große Vorbilder. Auch Hans Kelsen gehört dazu. Die großen Alten bedeuten ihm viel, und darüber berichtet er.

Er ist geborener Burgenländer, kein Alpenösterreicher. In Wien wurde er zum "Leser", zum l'homme de lettre, zum goldenen Wiener Hirn. Die Sprache ist sein Medium, sein Werkzeug und Werk, sein Wirken und seine Wirkung. Durch sie drückt er sich in vielen Inhalten und Formen aus. Von der strengen wissenschaftlichen Monografie bis zum sentimentalen Wiener Lied ist ihm jede Ausdrucksform vertraut. Wer ihn aber nur für einen Hirnmenschen ohne Gefühl hält, wird nicht zuletzt durch seine Beziehung zum Wein und zum Wiener Lied eines Besseren belehrt. Sein Herz enthüllt sich im Gesang. Seine CD heißt "in vino veritas". Hier kommt viel Gefühl zum Ausdruck. Es ist das besondere Gemeinschaftsgefühl eines besonderen Einzelnen.

Zeitzeuge an Kreuzwegen

Autobiographische Bekenntnisse

Von Norbert Leser

Hg. von Paul Sailer-Wlasits, mit einem Vorwort von Günther Nenning

Holzhausen Verlag, Wien 2003

260 Seiten, brosch., e 25,00

Der Furche-Leser

"Von Leser zu Leser" waren seine Kolumnen übertitelt, die er acht Jahre lang, bis 1995, für die Furche schrieb. Als gläubiger Katholik, überzeugter, freilich nicht selten dissidenter Sozialdemokrat, als kritischer Intellektueller war Norbert Leser so etwas wie das personifizierte Gründungsprogramm dieser Zeitung im Sinne Funders oder Heers: Brückenbauer, aufrechten Ganges zwischen den Lagern, sich jeder vorschnellen Zuordnung entziehend.

In seiner letzten Kolumne, im Mai '95, schrieb Leser: "Wenn die SPÖ weiter auf Franz Vranitzky sitzenbleibt, könnte es passieren, dass eine neue Leitfigur wie Wolfgang Schüssel schlummernde Energien aktiviert und das Blatt innenpolitisch wendet." Von Viktor Klima konnte Leser damals noch nichts ahnen, ansonsten hat er - einmal mehr - Recht behalten.

Am 31. Mai feiert Norbert Leser seinen 70. Geburtstag. RM

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