Werbung
Werbung
Werbung

60. Filmfestival Locarno: Auch der Siegerfilm repräsentiert die Stärke dieser Filmschau: radikale Kunst statt Mainstream-Kino.

Von all den großen Festivals wie Cannes, Venedig oder Berlin ist Locarno das experimentierfreudigste. Die großen Stars kommen schon lange nicht mehr an den Lago Maggiore, heute besteht das Filmprogramm des Festivals zum Großteil aus künstlerisch anspruchsvollen, teilweise ausnehmend spröde geratenen Filmen. Man berücksichtigt zum Glück auch entlegenere Filmemacher, und verzichtet dafür auf eine aufgeregte Boulevard-Show. Die mit sehr breiten Filmen bespielten Abende auf der Piazza Grande sind Spektakel genug für Frédéric Maire, den künstlerischen Leiter des Festivals. Auch hat er in diesem Jahr vermehrt auf Kurzfilme gesetzt, eine Stärke, die sonst anderen Schweizer Filmschauen vor-behalten war. Prompt fiel dann der Beschluss der Schweizer Filmförderstellen derartig aus, dass Locar-no künftig mit einem 10-prozentigen Budgetplus ins Rennen gehen kann, während den Kurzfilmtagen Winterthur beispielsweise 30 Prozent Budget gekürzt wurden.

Schweizer Filmpolitik

Filmpolitik ist eben auch bei den Schweizern ein heißes Eisen. Da lamentierten die Schweizer Medien lautstark über den von zehn auf sieben Prozent abgestürzten Marktanteil des Schweizer Films im eigenen Land - und hatten Vorschläge zur Rettung dieses Kulturgutes parat. Ein Thema, das auch den österreichischen Filmschaffenden bekannt vorkommen dürfte: Hierzulande grundelt der heimische Film bei nicht relevanten 2,5 Prozent Marktanteil.

Doch die strenge Rechnung soll und darf bei der Kunst nicht über deren Ermöglichung entscheiden, und so ist es auch kein Wunder, dass in diesem Jahr - zur 60. Ausgabe des Festivals - ein Film den Goldenen Leoparden abräumte, der spröder und gleichzeitig formal strenger nicht hätte sein können: Ai no yokan (The Rebirth) des Japaners Masahiro Kobayashi erzählt von der Liebe zwischen einem Gießereiarbeiter (gespielt vom Regisseur selbst) und einer Küchenangestellten. Die wachsende Zuneigung zwischen diesen beiden einsamen, stummen Seelen erhebt sich letztlich beeindruckend gegen den ewiggleichen Alltag der beiden.

Japanischer Sieger

Neben diesem außergewöhnlichen Film wurden unter anderem der Episodenfilm Memories (Spezialpreis der Jury für das Regie-Trio Pedro Costa, Harun Farocki und Eu-gène Green) sowie der Film Capitaine Achab (Beste Regie für Philippe Ramos) vergeben. Der Preis für den besten Darsteller wurde geteilt: Der Italiener Michele Venitucci spielt in dem Boxerdrama Fuori dalle corde des Tessiner Filmemachers Fulvio Bernasconi, der darin einen jungen Mann in das Boxergewerbe einführt. Altstar Michel Piccoli wurde für seine Rolle in Sous les toits de Paris ausgezeichnet.

Frédéric Maire ist in seinem zweiten Jahr als Festivalchef eine solide Auswahl gelungen, in der es die eine oder andere Entdeckung gab. Viele Filme des Wettbewerbs oder der Reihe "Cinéastes du présent" dachten auf bemerkenswerte Art über das Erwachsenwerden nach, sei es der französisch-algerische Beitrag La maison jaune von Amor Hakkar, der portugiesische Film O capacete dourado von Jorge Cramez oder der holländische Tussenstand, der von einem 17-Jährigen und den Folgen der Scheidung seiner Eltern erzählt. Am eindrucksvollsten aber gelang es der deutschen Regisseurin Ulrike von Ribbeck mit ihrem kleinen Film Früher oder später, von der Jugend zu erzählen: Hier ist es nicht ein ungestümer Teenager, der seine Welt entdeckt, sondern die Welt, die ein 14-jähriges Mädchen entdeckt. Inmitten eines behüteten Kosmos' beginnt sich das Mädchen auf schwärmerische Art in den 40-jährigen Nachbarn zu verlieben. Von Ribbeck gelang hier ein Kunststück: Sie gewinnt einem an sich ausgelutschten Thema, das es oft im "kleinen Fernsehspiel" zu sehen gibt, eine frische Sicht ab, die zwischen jugendlicher Unschuld und aufbrechender Selbstbestimmung oszilliert. Ein kleines, stilles Meisterwerk, zu Unrecht bei der Prämierung leer ausgegangen.

Österreichischer Flop

Im Wettbewerb war auch ein österreichischer Film zu sehen: Peter Payers Freigesprochen, eine lose Adaption von Ödön von Horváths Der jüngste Tag, enttäuschte allerdings. Ein Bahnbediensteter verursacht durch eine kurze Ablenkung - er küsst eine junge Frau - ein katastrophales Zugsunglück, wird aber freigesprochen. Sein weiteres Leben ist geprägt von tiefen Schuldgefühlen. Abgesehen davon, dass der Film in den zentralen Rollen mit Frank Giering und Lavinia Wilson, Corinna Harfouch und Robert Stadlober völlig fehlbesetzt ist, leidet Freigesprochen vor allem darunter, dass es Regisseur Payer nicht gelang, die quälenden Schuldgefühle in seinen nüchternen, technischen Kinobildern spürbar werden zu lassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung