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LICHTUNGEN: Schlepperdienst, kulturell. Eine Zeitschrift übt sich in Grenzüberschreitung.

Vor mir ein Stoß Zeitschriften von beachtlicher Höhe: Zehn Nummern LICHTUNGEN seit Herbst 2000, jede 150 Seiten stark im Format A4: eine der wichtigsten österreichischen Literaturzeitungen, gewichtig, großformatig, aber noch immer unter ihrem Wert geschätzt. Die jüngste Ausgabe, Nummer 94, die dritte des heurigen Jahres, bringt ein Projekt zum Abschluss, das es verdient, dieses editorische Unternehmen genauer zu beleuchten.

Poetik der Grenze

Als Graz 1998 zur Europäischen Kulturhauptstadt 2003 bestimmt wurde, erwies es sich als Glücksfall, dass der bosnische Dichter DÇzevad Karahasan Grazer "Stadtschreiber", der literarische Stipendiat der steirischen Metropole, wurde. Er ist es bis heute und entwickelte und begleitete ein Projekt, das seither in den LICHTUNGEN seinen Niederschlag fand. Das "Wunder der Grenzen" macht Karahasan für das "Wunder Europa" verantwortlich. Der durch zahllose ethnische, sprachliche, kulturelle, religiöse Grenzen zerschnittene Kontinent gewann - trotz aller Konflikte - gerade aus der dichten Vielfalt unterschiedlicher Identitäten seine weltweit einzigartige Position. Die im Europa von heute durchlässig gewordenen Grenzen nicht zu übersehen, sondern wahrzunehmen und in ihrer Bedeutung zu würdigen, ergab das Projekt "Poetik der Grenze". In 24 Folgen sind seither Essays zum Thema "Grenze" in den LICHTUNGEN erschienen und nun in einem soeben herausgegebenen Buch zusammengefasst. Es nennt sich wie das Projekt "Poetik der Grenze" und beschreibt im Untertitel, was es bieten will: "Li terarische Brücken für Europa".

Über 20 Persönlichkeiten, darunter Literaten, Philosophen, Soziologen aus 16 Ländern wurden je zwei Monate nach Graz eingeladen, um hier ihren Beitrag zu schreiben. Der damalige Grazer Kulturstadtrat Helmut Strobl ließ sich das langfristige Projekt etwas kosten und Markus Jaroschka, Chef der LICHTUNGEN, öffnete sein Blatt für eine Fülle von Texten, wie man sie bisher nicht zu Gesicht bekommen hatte: Eine Statistik der 30 Essays, die nun in Buchform zusammengefasst sind, zeigt, dass fast zwei Drittel der Autoren und Autorinnen aus dem ehemaligen Ostblock kommen. Damit wird eine literarische Terra incognita erschlossen, werden Erfahrungen gerade aus jenen Teilen Europas eingeholt, in denen starre, willkürliche, lebensgefährliche und oftmals verschobene Grenzen besonders erlitten wurden. Russland und Polen, Rumänien und Bosnien, Ungarn und Makedonien kommen zu Wort. Doch beschränken sich die Arbeiten keineswegs auf Staatsgrenzen. Sprachgrenzen, Lebensgrenzen, Körpergrenzen, Zeitgrenzen sind ein Thema und präsentieren in variantenreichen literarischen Formen dem staunenden Leser eine verloren geglaubte und nun wieder zugängliche Hälfte Europas.

transLOKAL

Damit nicht genug. Markus Jaroschka zieht zur gleichen Zeit ein zweites Projekt durch, das schon seit 1996 Literatur aus europäischen Städten präsentiert: "transLOKAL" publizierte bisher die Texte von Autoren und Autorinnen aus 22 Städten in den LICHTUNGEN. Auch hier liegt ein Schwerpunkt auf Ost- und Südosteuropa, doch finden sich in der Liste auch Dublin und Madrid, Bordeaux und Amsterdam, Glasgow und Berlin. Im November dieses Jahres wird ein groß angelegtes Lesefest als Veranstaltung der Kulturhauptstadt 2003 die Autoren des Projekts in Graz versammeln.

Durch beide Projekte hat Markus Jaroschka mit seinen LICHTUNGEN ein Netz von literarischen Querverbindungen aufgebaut, das seinesgleichen sucht. Der oftmals vermisste kulturelle Dialog im Raum des zusammenwachsenden Europa wird in dieser Zeitschrift mit Aufwand und Ausdauer vorangetrieben; allein schon die Übersetzungsarbeit an den zahlreichen, vor allem osteuropäischen Originaltexten ist eine nachhaltige Leistung. Graz, eine literarische Hauptstadt der 70er Jahre, gibt hier ein markantes Lebenszeichen anderer Art: Grenzüberschreitungen werden geplant und vollzogen, ein Schlepperdienst wird organisiert, den keine Grenzkontrolle aufhalten kann.

LICHTUNGEN - Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik.

Verleger: "Literaturkreis Lichtungen" im Rahmen der Urania Graz, Hg. & Chefredakteur: Markus Jaroschka. Ersch. vierteljährlich, Einzelheft C 4,50 (plus Porto), Jahresabo C 15,- (plus Porto). Vertrieb: Steirische Verlagsgesellschaft, Graz.

Poetik der Grenze. Über Grenzen sprechen - Literarische Brücken für Europa.

Hg. von DÇzevad Karahasan und Markus Jaroschka. Steirische Verlagsgesellschaft, Graz 2003, 302 Seiten, C 18,-.

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