Mediale Schamlosigkeit

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Nach den "Enthüllungen" aus dem Vernehmungsakt von Natascha Kampusch sind Konsequenzen unabdingbar.

Man kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Die "Enthüllungen" aus den Vernehmungsakten von Natascha Kampusch waren eine Grenzüberschreitung, die niemand in Österreich hinnehmen sollte, schon gar nicht die Medienbranche. Mag ja sein, dass es anderswo noch viel grauslicher zugeht und Österreich auch keine Insel ist - erst kürzlich hat bekanntlich eine Gerichtsuntersuchung in Großbritannien ergeben, dass es eine Medienmeute war, die Lady Di & Co seinerzeit in den Tod hetzte. Mag also sein, dass die Abgründe des britischen Boulevards noch menschenverschlingender sind als jene hierzulande. Aber die heimische Medienszene ist auf dem besten Weg, in diesem, ganz schlechten Boulevard-Sinn, "europareif" zu werden.

Sex sells. Crime sells. Sex and Crime sells dann ganz besonders gut. Das von Hans Dichands Schwiegertochter geleitete Gratisblatt, das Zehntausende Wiener beim Weg zur Arbeit begleitet, hält sich penibel und ohne Genierer an dieses Medien-"Gesetz": Schlüpfrige Andeutungen aus dem Polizeiakt, entsprechende Fotos dazu. Und ein gefundenes Fressen für die Scheinheiligkeit der Konkurrenz: Das zu einem Gutteil gleichfalls gratis verteilte Tagblatt aus dem Fellner-Reich kann sich über den Sudel-Journalismus des Mitbewerbers empören und gleichzeitig diesen exzessiv weitertreiben: Ein Interview mit dem Vater von Frau Kampusch etwa, der die unappetitlichen Details auf die Spitze treibt. Er wäre doch so gerne Opa, wird er zitiert, und das Fellner-Blatt erzeugt bei Leserin und Leser alsogleich dunkle Ahnungen: Was passierte, wenn wirklich ein Baby …? (Der Autor dieser Zeilen ist sich bewusst, dass er mit der Wiedergabe solcher Andeutungen auch an die Grenze des Vertretbaren geht. Aber wie soll er diese mediale Schamlosigkeit in ihrer Brutalität sonst aufzeigen?) Und dann die lauteste Empörung im Land bei Hans Dichands journalistischem Rabauken: "Bullshit vom Widerwärtigsten!" schrieb der etwa in seiner Kolumne an die "Liebe arme Natascha Kampusch": Was ist das für eine Medienlandschaft, wo sich ein Michael Jeannée zum Ethik-Apostel aufschwingen kann?

Natürlich haben sich in den letzten Tagen auch die hierzulande allzu leisen Medienwächter zu Wort gemeldet: Andreas Koller, Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus", sprach von einer "eindeutigen Grenzüberschreitung", die zu verurteilen sei, und die vom Verein der Chefredakteure eingerichtete "Leseranwaltschaft" forderte eine "offene Debatte zur Fragen der Medienethik". Diese Wortspenden in allen Ehren. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Instrumentarium zur Kontrolle der Medien ist in Österreich mehr als ausbaufähig. Es gibt hierzulande kein Organ zur Selbstkontrolle der Medien. Seit 1992 der Presserat zu Grabe getragen wurde, existiert nicht einmal mehr eine zahnlose Instanz, in der sich die Branche selbst mit einer flagranten Verletzung der Menschenwürde in den Medien auseinandersetzt. Österreich ist somit meilenweit von Europareife entfernt - und wie die beschriebene Affäre zeigt, ist eine Selbstkontrolle der Medien, die auch ein Instrumentarium an Sanktionen beinhaltet, überfällig. Gerade weil Medienfreiheit so wichtig und ein unaufgebbares Gut darstellt, erweist sich die Eigenverantwortung der Medien als unabdingbar.

Sollte diese von der Branche allerdings nicht übernommen werden, bleibt nur eine Verschärfung gesetzlicher Maßnahmen: Es ist Natascha Kampusch einfach nicht zumutbar, nun monate- oder jahrelang um ihr Recht auf Privatsphäre zu prozessieren. Man könnte etwa die finanziellen Sanktionsmöglichkeiten gegen Verletzungen der Menschenwürde in den Medien per Gesetz drastisch anheben. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert, weil dadurch die Medienfreiheit beschnitten würde. Auch von daher wäre eine Selbstkontrolle der Medien, die diesen Namen verdient, höchst notwendig.

Die aktuelle Causa zeigt aber auch, dass die mediale Sorgfaltspflicht viel tiefer reicht. Es ist Thomas Mayer zu danken, dass er im Standard darauf hingewiesen hat, wie verräterisch Sprache sein kann: Alle redeten von "Natascha" (man fügt hinzu: allenfalls vom "Fall Kampusch"). In Wirklichkeit gehe es da aber um den "Fall Priklopil". Bei solcher - sprachlicher - Verwechslung von Täter und Opfer fängt nämlich der journalistische Missbrauch an.

otto.friedrich@furche.at

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