Menschenwürde in Gefahr?

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Die Psychoshow "Big Brother" provoziert heftige Reaktionen: Rufe nach Zensur und Verbot.

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Die Psychoshow "Big Brother" provoziert heftige Reaktionen: Rufe nach Zensur und Verbot.

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Noch keine Fernsehsendung war schon vor dem Start so umstritten wie die Psycho-Show Big Brother, die seit voriger Woche im deutschen Privatsender RTL 2 läuft. "Ein Genre, das Menschen allein zum Zwecke der Unterhaltung instrumentalisiert und Voyeurismus salonfähig macht, entspricht nicht den Normen unserer Gesellschaft", meint etwa Wolfgang Thaenert, Direktor der für RTL 2 zuständigen Medienanstalt, der - wie andere Kritiker auch - einen Verstoß gegen die Menschenwürde wittert. Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, fühlt sich an Versuche erinnert, "wie wir sie bisher nur mit Ratten kennen". Sogar der deutsche Innenminister Otto Schily erklärte, die Sendung verstoße gegen die Verfassung.

Das aberwitzige Konzept von Big Brother hätte noch vor wenigen Jahren als pure Science Fiction gegolten: Eine Gruppe von fünf Männern und fünf Frauen wird für längstens 100 Tage in Wohncontainern einquartiert und von der Außenwelt völlig abgeschottet. 28 Kameras und 60 Mikrophone zeichnen jede Handlung, jedes Wort und jede Gefühlsregung der Teilnehmer auf. Nur die Toilette ist tabu. Ein Zusammenschnitt der Ereignisse ist jeden Abend auf RTL 2 zu sehen. Alle zwei Wochen nominieren die Mitglieder der Gruppe zwei aus ihrem Kreis, die das Haus verlassen sollen, das Publikum entscheidet, wer von den beiden tatsächlich gehen muß. Wer als letzter übrig bleibt, erhält etwa 1,7 Millionen Schilling. Aus George Orwells Horrorvision vom allmächtigen Überwachungsstaat ist ein trivialer Spaß geworden.

Der beabsichtigte Reiz liegt darin, die gruppendynamischen Prozesse eines bunten Haufens ganz normaler Menschen beobachten zu können; er liegt in der Hoffnung, daß statt banalen und für den Zuseher langweiligen Tätigkeiten wie Schlafen, Essen und small talk es irgendwann einmal zu Streit oder Sex kommt. Infrarotkameras in den Schlafräumen kommen diesem voyeuristischen Bedürfnis entgegen, der Kamerablick in die Dusche ist ein kleiner Vorgeschmack.

Richtig spannend wird es dort, wo die Grenze zwischen Beobachtern und Beobachteten verschwimmt: So geriet die 29jährige Despina in Konflikt mit dem Großen Bruder, weil sie einen Sichtschutz errichten wollte, um sich unbeobachtet aus- und anziehen zu können. Dieser Konflikt freilich wurde nicht in der Sendung gezeigt, sondern auf der Big Brother-Homepage (www.bigbrother-haus.de) dokumentiert. Am Sonntag hat Despina übrigens als erste das Haus verlassen - freiwillig, sie war der Situation nicht mehr gewachsen.

Bald schon müssen vielleicht auch die anderen neun Teilnehmer die Container frühzeitig räumen: Eine Runde offizieller Medienwächter beriet am Montag ein mögliches Verbot der Sendung; das Ergebnis stand zu Redaktionsschluß noch nicht fest.

"Moralische Panik und Medienhysterie" macht der Medienwissenschaftler Lothar Mikos aus. In der Show sieht er keinen Verstoß gegen die Menschenwürde: "Es ist ein Spiel. Auch im Fußball werden 22 Männer mit nackten Beinen und lächerlichen Leibchen dabei beobachtet, wie sie einem Ball nachrennen." Der deutsche Medienpsychologe Jo Groebel betont das Prinzip der Freiwilligkeit: "Die Kandidaten nehmen freiwillig teil, die Leute schauen freiwillig zu", und spricht sich gegen ein Verbot aus. "Die Rundfunkfreiheit gilt auch für Mist", gibt Jürgen Doetz, Präsident des Verbandes Privater Rundfunk und Telekommunikation, zu bedenken.

Zensur einer harmlosen TV-Show - wird ein demokratisches Gut Opfer von Moralismus und Alarmismus? Überzogene Reaktionen auf "Verstöße gegen Grundwerte" sind eine gefährliche Sache. Man denke nur an das derzeitige Verhältnis zwischen Österreich und den anderen EU-Staaten.

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