Messerscharfe Konturen

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Mit einem großartigen Hauptdarsteller führt Gabriele Salvatore in "Ich habe keine Angst" ein Drama des Südens konsequent aus der Kinderperspektive bis ans zartbittere Ende.

Meterhohe, sattgelbe Kornfelder, roter Mohn: unendlich weit erstrecken sich die goldenen Wogen an staubigen Straßen zum tiefblauen, wolkenlosen Horizont. Hier spielt großteils Gabriele Salvatores "Ich habe keine Angst". Sie sind ein Bild für Apulien, Italiens vergessenen Süden. Zwischen den wogenden Ähren, die den Lebensunterhalt des winzigen Dorfes Aqua Traversa nicht mehr tragen, lauert Gefahr.

In diesem Spielfeld haben auch die Kinder ihre Welt jenseits der elterlichen Kontrolle. Fast durchgehend ist die Kamera mit 1,30 Metern auf Augenhöhe des neunjährigen Michele positioniert, in faszinierender Konsequenz behält der Film die Perspektive seines Helden bei, ebenso unerbittlich führt die innere Logik der Handlung zum haarsträubenden Ende.

Die Schönheit der Natur trügt ebenso wie die Alltagsnormalität der Dorfbewohner. Von Beginn an liegt latent Bedrohung in der hitzeflirrenden Luft. Der ernorme Zwiespalt, dem Michele ausgesetzt wird, deutet sich schon in einer Mutprobe an, als er über den morschen Balken einer Ruine balancieren und aus dem Fenster auf einen Baum springen muss. Hier wird er ein sorgsam abgedecktes Erdloch entdecken. Als er hineinblickt, verschwindet ein leichenblasser Kinderfuß unter einer verfilzten Wolldecke. Er schreckt zurück, kehrt wieder, gewinnt das Vertrauen vom gefangenen, traumatisierten Buben mit den schorfverklebten Augen (Mattia Di Pierro). Er wird das grauenhafte Geheimnis, das die Erwachsenen so krampfhaft hinter familiären Essensritualen zu bergen suchen, lüften.

Berückend ästhetisch, teils gekünstelt sind die Bilder, teils überzeichnet die Figuren. Den Klischeemacho gibt Vater Pino (Dino Abbrescia) als gigoloharter Haustyrann mit Zigarre im Mundwinkel, Anna die mit angestauter Bitterkeit dienende, kochende erotische Mamma (Aitana Sànchez-Gijón), zu Italo-Schnulzen aus dem Auto tanzt der brutale Kleinkriminelle Felice (Giorgio Careccia) in der Sonne. Umso präziser ist Micheles messerscharfe, ahnungsvolle Beobachtung, unter der die Kulissen erbarmungslos fallen. Deplaziert ventilieren die Eltern ihre Aggression an ihm und seiner Schwester Maria, mit dem Einzug von Pinos "Freund", dem Ganoven Sergio (Diego Abatantuono), spitzt sich die Lage drastisch zu: alle Kinder werden ausgesperrt.

Großartig spielt Debütant Giuseppe Cristiano das bis zum Letzten geforderte, in einen furchtbaren Loyalitätskonflikt getriebene frühreife Kind, das um jeden Preis die Wahrheit ans Licht bringen muss. Im Kontrast von Kinder-und Erwachsenenwelt, Schönheit der Bilder und Grauen des Inhalts drückt sich das Drama des Südens noch schärfer aus. Zu Recht wurde der Film beim italienischen David-di-Donatello mehrfach prämiert.

Ich habe keine Angst -

Io non ho paura

Italien, Spanien, Großbritannien 2002. Regie: Gabriele Salvatores.

Mit Giuseppe Cristiano, Mattia Di Pierro, Giulia Matturro, Aitana Sánchez-Gijón, Dino Abbrescia, Diego Abatantuono,

Giorgio Careccia.

Verleih: Filmladen. 109 Min.

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