Moralistin und Amerikas Dissidentin Nr. 1

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Die Schriftstellerin in mir misstraut der guten Staatsbürgerin, der intellektuellen Botschafterin', der Menschenrechtsaktivistin": So definierte sich Susan Sontag am 12. Oktober 2003 bei ihrer Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche, die ein Plädoyer der weithin als Essayistin Apostrophierten für die Literatur darstellte. "Literature can tell us, what the world is like": So einer der Schlüsselsätze dieser Rede im O-Ton, in der Sontag differenziert für Verständigung von Europa und Amerika sowie westlicher und islamischer Welt eintrat.

Dabei galt Susan Sontag zuletzt kaum als Galionsfigur der Differenzierenden: Ihr Essay im New Yorker, in dem sie kurz nach dem 11. September 2001 vor westlichen Überreaktionen warnte und schrieb, nicht die Attentäter seien feige, feige sei es, nun mit uneinholbarer militärischer Überlegenheit Afghanistan anzugreifen, stempelte sie im patriotischen Amerika zur Vaterlandsverräterin. Und New Yorks Ex-Bürgermeister Ed Koch ließ sich in einer Radioansprache gar zur Aussage hinreißen: "Susan Sontag wird im Neunten Kreis der Hölle für ihre frevelhaften Angriffe auf Israel schmoren", denn Sontag hatte im Frühjahr 2001 bei der Dankesrede für den Jerusalem-Preis in Israel die Besatzungspolitik des Landes scharf kritisiert. Folgerichtig in der Logik derartiger Kritik, dass bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2003 der US-Botschafter durch Abwesenheit glänzte.

Typisch für Sontag aber, dass sie sich nie in ein politisches Schema pressen ließ, und Freund wie Feind die Einordnung verwehrte: 1982, nach Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen, warf sie der amerikanischen Linken die Diagnose entgegen, Kommunismus sei erfolgreicher Faschismus. 1989 setzte sie sich an die Spitze einer Solidaritätskampagne für Salman Rushdie und 1993 führte sie im belagerten Sarajewo Regie bei einer Aufführung von Becketts "Warten auf Godot", um Solidarität zu zeigen und für ein - militärisches - Eingreifen des Westens Stimmung zu machen.

Mindestens zweimal blieb Susan Sontag gegen Krebserkrankungen siegreich. Am 28. Dezember erlag sie jedoch in New York einer Leukämie. 1933 in New York geboren, studierte sie in Chicago, Oxford und Berkeley Philosophie, Französisch und Literatur und promovierte in Harvard beim protestantischen Theologen Paul Tillich. Mit 17 heiratete sie den Soziologen Philip Rief, der achtjährigen Ehe entspross Sohn David, der seinerseits Schriftsteller und Manager seiner Mutter wurde. Von den 80er Jahren an lebte Susan Sontag in einer Beziehung mit der Fotografin Annie Leibovitz.

Seit den 60er Jahren schrieb Sontag Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, für den Roman "In America" erhielt sie 2000 den National Book Award. Sie führte Regie in Theater und Film, wurde aber vor allem als kulturkritische Essayistin rezipiert, obwohl sie sich selbst (siehe die Friedenspreisrede) in erster Linie als Literatin verstand.

Auch Sontags letztes, 2003 erschienenes Buch "Das Leiden anderer betrachten" - ihr bereits zweiter Essay über die Kriegsfotografie, in dem sie für eine Blickschärfung auf die Konsequenzen hin eintritt, die das in Bild(er) gegossene Leiden bei den Betrachtern auslöst - hat ungebrochene Aktualität: Insbesondere den Machern des dieswöchigen profil, die ihr Magazin mit Leichenbildern der südasiatischen Flutkatastrophe illustrieren zu müssen glaubten, sei gerade diese von Susan Sontag in Gang gebrachte Auseinandersetzung dringend anempfohlen. Otto Friedrich

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