Poppers Showdown mit Wittgenstein

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Seit über einem halben Jahrhundert geistert die Schürhaken-Episode durch die Literatur. Zwei Autoren versuchen ihr auf den Grund zu gehen.

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Seit über einem halben Jahrhundert geistert die Schürhaken-Episode durch die Literatur. Zwei Autoren versuchen ihr auf den Grund zu gehen.

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Karl Poppers ehemaliges Arbeitszimmer in der London School of Economics ist nicht, wie man annehmen könnte, eine Gedenkstätte, sondern wurde in eine Toilette umgebaut. Keine Erinnerungstafel. Wo auch. Aber den Schauplatz eines wichtigen Ereignisses in Poppers Leben gibt es noch. Zwei Journalisten von der BBC machten ihn nun zum Angelpunkt einer historischen Ermittlung. Und eines überaus amüsanten Buches. Hat Ludwig Wittgenstein am Freitag, 25. Oktober 1946, in Cambridge, King's College, Gibbs Building, Aufgang H, Appartement 3, seinem Kontrahenten Popper mit dem Schürhaken gedroht? Und wie hat Popper darauf reagiert?

Auch der Kamin, an dem Wittgenstein den Schürhaken gegen Popper schwang, existiert noch. Der Schürhaken ist allerdings verschollen. Angeblich ließ Professor Richard Braithwaite, der damalige Gastgeber der beiden Philosophen und Professor Bertrand Russells im Raum H 3, das Corpus Delicti der Beinahe-Handgreiflichkeit verschwinden.

Wittgenstein und Popper begegneten einander ein einziges Mal. Popper hatte Wittgenstein und dessen Philosophie schon in Wien angegriffen und war deshalb zu seinem Leidwesen von Moritz Schlick nicht in den "Wiener Kreis" aufgenommen worden. Doch hatte Wittgenstein von diesem Angriff offenbar nie erfahren, er hätte sich dafür auch kaum besonders interessiert. 1946 reagierte er auf den Namen Popper jedenfalls mit der Bemerkung: "Nie gehört!" Popper hingegen hatte in Neuseeland bei der Arbeit an seinem Werk "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde" auch Wittgenstein im Visier gehabt.

Als die Nazizeit ihre Schatten vorauswarf, war Wittgenstein längst ein Star in Cambridge, Popper hingegen ein wissenschaftlicher Niemand. Wittgenstein war Erbe eines der größten Vermögen Österreichs und auch nach dem Verzicht zugunsten seiner Geschwister finanziell unabhängig. Popper war stets auf eine Stellung angewiesen. Den Gegenwert von eineinhalb Tonnen Gold warf die Familie Wittgenstein für die Schonung der in Wien verbliebenen Schwestern den Nazis in den Rachen. Die Buchautoren bezeichnen ihre Verhandlungen mit den NS-Behörden nicht ganz passend als "feilschen". Poppers Eltern waren 1938 bereits tot, 16 Verwandte von der mütterlichen Seite wurden ermordet. Er selbst konnte einige Zeit vor dem "Anschluss" eine Professur in Neuseeland ergattern. England hätte er vorgezogen.

Im Oktober 1946 wird er zu einem Gastvortrag im Moral Science Club in Cambridge eingeladen. Er ist nach dem Krieg nach England zurückgekehrt, hat eine Lebensstellung als Professor für Logik und Wissenschaftliche Methodenlehre an der London School of Economics angetreten und ist als Autor von "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde" im Gespräch. Die Philosophie in Cambridge und der Moral Science Club sind Wittgensteins Domäne. Popper bereitet sich sorgfältig auf die Konfrontation vor und wählt mit Vorbedacht ein nur für Uninformierte harmlos klingendes Thema: "Gibt es philosophische Probleme?" Da Wittgenstein die Existenz philosophischer Probleme abstreitet und nur sprachliche Probleme gelten lässt, ist es eine Kampfansage.

Offenbar fuhr Popper mit der Absicht nach Cambridge, es Wittgenstein an diesem Abend ein für allemal zu zeigen. Der kleine Raum war überfüllt. Doch die Konfrontation dauerte nur zehn Minuten, dann stürmte Wittgenstein hinaus. Beide Männer waren rechthaberische Naturen, deren Selbstbeherrschung zu wünschen ließ, bei Popper häufig, bei Wittgenstein fast immer. Was Popper nicht wissen konnte: Dass Wittgenstein die Vortragenden unterbrach, in Monologe verfiel, die Gäste nicht mehr zu Wort kommen ließ, war ebenso notorisch wie seine Gewohnheit, wegzurennen und die Tür mehr oder weniger geräuschvoll zu schließen. Alle Strategien seiner mehr oder weniger wohlwollenden Kollegen, ihn davon abzubringen, hatten sich längst als wirkungslos erwiesen. Mit vielen einstigen Freunden hatte er sich überworfen und auch die enge Beziehung zwischen Wittgenstein und Bertrand Russell war längst zerbrochen. Russell und Popper hatten am Nachmittag zusammen Tee getrunken und Russell betrachtete Poppers Versuch, Wittgenstein argumentativ zu vernichten, mit Wohlwollen. Aber die enge Freundschaft mit Russell, die Wittgenstein lange Zeit genossen hatte und um die Popper rührend warb, wurde diesem nie zuteil.

Wittgenstein ließ sich von Popper nicht vernichten. Möglicherweise hat er nicht einmal so ganz wahrgenommen, dass da einer ausgezogen war, ihm den Garaus zu machen. Andererseits war Popper nicht so hilflos wie andere düpierte Vortragende und ließ sich nicht einfach unterbrechen. Worauf Wittgenstein, schließlich saßen er, Popper und Russell am Kamin, mit dem Schürhaken zu fuchteln begann.

Die BBC-Journalisten Edmonds und Eidinow machen aus der Rekonstruktion dieses Abends einen spannenden Wissenschaftskrimi. Ein erheblicher Teil der Anwesenden waren Erkenntnistheoretiker, die sich mit Aussagenlogik, Wahrnehmungsfähigkeit und der Frage, was der Mensch wissen kann, beschäftigten. Trotzdem ist aus ihren Berichten kein klares Bild jenes Abends, sondern bestenfalls die wahrscheinlichste Version zu gewinnen. Hat Wittgenstein seine Ausführungen mit dem Schürhaken unterstrichen, hat er damit gestikuliert, gefuchtelt oder gar gedroht? War der Schürhaken glühend? Konnte sich Popper bedroht fühlen? Musste er es?

Popper beantwortete Wittgensteins Aufforderung, ihm doch ein einziges Beispiel für eine sittliche Regel zu nennen, mit dem Satz: "Du sollst Gastvorlesenden nicht mit dem Schürhaken drohen!" Hat dieser Satz Wittgenstein, der noch nie einen Spaß verstanden hatte, zum wütenden Hinausrennen veranlasst? Hat er die Tür leise geschlossen oder zugeknallt? Oder hat Popper seine schlagfertige Antwort erst von sich gegeben, als Wittgenstein schon weg war?

Das Buch ist interessant und amüsant, wenn auch manches etwas unangenehm berührt. An manchen Stellen schießen die Autoren so übers Ziel, dass ihre Wahrheitssuche wie ein Versuch anmutet, beide Philosophen zu demontieren. Dabei machen sie es dem Leser leicht, ihnen nicht immer zu folgen. Denn die Darstellung von Edmonds und Eidinow ist in etlichen Punkten so ungenau, dass man sich fragen muss, wie weit man ihnen angesichts solcher Flüchtigkeitsfehler, auch wenn sie den Kern der Sache nicht berühren, dort vertrauen darf, wo man sie nicht nachprüfen kann.

Aus einer Szene in Franz Theodor Csokors Stück über den November 1918 wird eine "nicht belegte Geschichte". Aus der österreichischen Regierung wird eine Landesregierung. Der berühmte Ausspruch eines Nazibonzen, wenn er das Wort Kultur höre, greife er zum Revolver, wird fälschlich Hermann Göring zugeschrieben. Reinhard Heydrichs Mitteilung, Hitler habe die physische Vernichtung der Juden befohlen, wird mit September 1939 fehldatiert. Die getürkte 99,71-Prozent-Volksabstimmung für den Anschluss vom April 1938 wird für eine durchaus realistische Widerspiegelung der "Stimmung in Österreich" erklärt. Dass Arthur Seyß-Inquart am Vorabend des Einmarsches Bundeskanzler wurde, ist den Autoren entgangen, weshalb sie es für möglich halten, dass sich Wittgensteins Schwestern nach dem Anschluss in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt an ihn wandten!

Aus der Strafverschärfung für den Moritz-Schlick-Mörder Nelböck zu hartem Lager alle drei Monate wird ein alle drei Monate gewechseltes hartes Lager, was immerhin innovativ ist. Dass sich Newtons Gesetze, "diese sogenannten Gesetze", durch die Relativitätstheorie "auch noch als falsch" erwiesen hätten, ist auch ziemlich falsch, bekanntlich wurde lediglich ihr Geltungsbereich neu definiert. Die Naturwissenschaftler, mit denen Popper befreundet war, werden aufgezählt, "vier von ihnen waren Nobelpreisträger", doch Konrad Lorenz fehlt. Da auch die Übersetzer an etlichen Stellen schlampten, wird, und das ist wirklich originell, aus der "Reichsstelle für Sippenforschung" an einer Stelle eine "Reichsstelle für Sittenforschung".

Wer sich für den vor 50 Jahren verstorbenen Wittgenstein (siehe auch Seite 21) oder für Popper oder beide interessiert, wird das Buch trotzdem mit Gewinn und Genuss lesen.

Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte Von David J. Edmonds und John A. Eidinow, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001 284 Seiten, Fotos, geb., öS 291,-/e 19,90

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