"Schluss mit Indiens Kastensystem"

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Offiziell ist die Unberührbarkeit in Indien seit Jahrzehnten abgeschafft, tatsächlich besteht sie aber weiter. Im Dezember 1998 startete eine Kampagne für die Menschenrechte der Unberührbaren. Die furche sprach mit einer ihrer profiliertesten Aktivistinnen.

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Offiziell ist die Unberührbarkeit in Indien seit Jahrzehnten abgeschafft, tatsächlich besteht sie aber weiter. Im Dezember 1998 startete eine Kampagne für die Menschenrechte der Unberührbaren. Die furche sprach mit einer ihrer profiliertesten Aktivistinnen.

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die furche: Die Kampagne für die Menschenrechte der Dalits, also der Unberührbaren, läuft seit knapp zwei Jahren. Was hat sie bisher gebracht?

Ruth Manorama: Die Kampagne ist der Versuch vieler Aktivisten in Indien, unser Anliegen in die Öffentlichkeit zu bringen und zugleich auf internationaler Ebene sichtbar zu machen. Wir fühlen, dass das Thema der Unberührbarkeit mehr als 50 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens und mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach außen getragen werden muss und wir auf internationaler Ebene Unterstützung fordern müssen, damit die betroffenen Menschen endlich Gerechtigkeit bekommen.

die furche: Wer steht hinter dieser Kampagne?

Manorama: Die ganze Kampagne wird von den Dalits selbst getragen. Wir haben Dalits im ganzen Land dazu gebracht, unser Dokument zu unterzeichnen. Auch Vertreter der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivisten haben unterzeichnet. Wir haben mit hohen Politikern gesprochen. Indien ist natürlich fast schon zu groß, um solch eine Kampagne durchzuführen. Ursprünglich war sie ja auch nur für ein knappes Jahr geplant, doch das erwies sich dann als Problem. Denn viele der Themen wie Landrechte, Bildung für Dalits, Frauenfragen, ja eigentlich auch das bloße Überleben, erfordern mehr Zeit. Außerdem gibt es 2001 die UNO-Konferenz gegen Rassismus.

die furche: Sehen Sie eine Parallele zwischen Kastensystem und Rassismus?

Manorama: Wir wollen genauer untersuchen, ob das Kastenthema nicht unter die Kategorie Rassismus fällt. Dafür benötigen wir mehr Forschung. Nach unserer öffentlichen Anhörung zu der aktuellen Lage der Dalits in diesem Frühjahr kamen wir zu dem Schluss, dass Diskriminierung von Menschen auf der Basis ihrer Herkunft, wie das bei den Dalits der Fall ist, etwas mit Rassismus zu tun hat. Dalits gelten schließlich aufgrund ihrer Geburt als inferior.

die furche: Das Schwarzbuch, das die Kampagne herausgebracht hat, beschreibt entsetzliche Lebensbedingungen der Dalits. Es betont den fundamentalen Widerspruch, dass Indien eine Demokratie ist und dass vor dem Gesetz somit alle Menschen als gleich gelten. Zugleich ist aber im indischen Kastensystem die Ungleichheit der Menschen aufgrund ihrer Geburt festgeschrieben. Wie wollen Sie denn mit diesem Widerspruch nun umgehen?

Manorama: Man kann schon an das Prinzip der Demokratie glauben, aber die Demokratie ist aufgebaut auf vielen Widersprüchen in der Gesellschaft - Widersprüchen infolge von Klassen, Kasten und Geschlecht. In unserer Verfassung ist die Grundursache nicht angesprochen. Man hat sich zwar gegen die Unberührbarkeit ausgesprochen, aber nicht gegen das Kastensystem an sich. Also sagen zwar viele Menschen, die Unberührbarkeit ist ein Problem, alle Menschen sollten gleich behandelt werden, zugleich ist es aber praktisch nicht möglich, das Kastensystem als solches in Frage zu stellen. Bis heute nicht. Man hat bloss versucht, die Unberührbarkeit abzuschaffen, aber nicht das Kastensystem, das ist der zentrale Widerspruch. Jeder Mensch wird weiter in eine Kaste geboren und bleibt bis zum Tod in dieser Kaste, das ist ein sehr undemokratisches Prinzip. Die indische Gesellschaft ist in ihren Wurzeln nicht auf dem Prinzip der Gleichheit aufgebaut. Damit müsste sich Indien einmal auseinandersetzen.

die furche: De facto heißt das aber, dass, solange es das Kastensystem gibt, es auch die Unberührbarkeit geben wird. Was kann dann die Kampagne erreichen?

Manorama: Absolut. Kastensystem und Unberührbarkeit sind die zwei Seiten einer Medaille. Wir können allerdings die Auswirkungen des Kastensystems mildern. Kurzfristig können wir etwa dafür sorgen, dass es zum Beispiel in Lokalen nicht mehr separate Trinkgläser für Dalits gibt. Wir können für höhere Löhne kämpfen. Sehr viele Dalits sind Landarbeiter und bekommen weniger bezahlt als andere, wir können also Mindestlöhne für sie aushandeln. Solche kurzfristigen Ziele können wir erreichen. Aber die Mentalität, dass Dalits nicht gleichwertig sind, dass sie an die unterste Stelle der sozialen Hierarchie gehören, ist fest im Denken aller Inder verankert. Das Kastensystem sitzt tief in der indischen Psyche. Aber es ist nicht von Gott geschaffen, es ist von den Menschen gemacht. Theologische Argumente und die Religion werden dazu verwendet, um die Dalits auszubeuten. Bis sich das ändert, wird noch viel Zeit vergehen. Wir müssen noch lange weiter kämpfen.

Es ist wie Rassismus, wie Apartheid in Südafrika, auf dem Papier ist sie abgeschafft, aber in der Realität ist der Rassismus noch immer da. Wir müssen also gegen den Rassismus ankämpfen, denn er ist von Menschen in ihrem eigenen Interesse gemacht. Das ist eine große Herausforderung. Das sind Früchte eines schlechten Baumes. Es genügt nicht, die Früchte auszuschneiden. Wir müssen die Wurzeln des Baums behandeln, also gegen das Grundgefühl in der Gesellschaft ankämpfen, man könne die Dalits ausbeuten, soviel man will. Also die Einstellung: "Was soll's, wenn Häuser von Dalits verbrannt werden? Was soll's, wenn Dalits ermordet werden?" Und die Politiker stützen dieses System.

Die Regierung muss dies endlich als tiefe Krankheit in der Gesellschaft anerkennen. Aber sie sagt bloß: Das ist ein internes Problem. Warum tragt ihr es nach außen? Selbst Mitgiftmorde dürfen auf internationaler Ebene angesprochen werden, aber nicht das Kastensystem. In dem von der UNO-Frauenkonferenz von Beijing 1995 verfassten Dokument wurde Mitgift als eine wichtige Ursache von Gewalt gegen Frauen anerkannt, aber im Kastensystem begründete Gewalt gegen Dalitfrauen blieb draußen. Daher ist die Nationale Kampagne Ausdruck des tiefen Leidens der Dalits.

die furche: Ist die Kampagne auch ein Zeichen dafür, dass sich die Dalits heute besser zu organisieren wissen?

Manorama: Dalits haben immer Widerstand geleistet, die Art der Erniedrigungen und Diskriminierung, die sie ertragen müssen, das hätte längst abgeschafft werden sollen, kämpfen sie doch schon seit so langer Zeit. Aber ihre Bewegungen wurden nicht entsprechend dokumentiert. Natürlich stehen heute Menschenrechtsthemen insgesamt mehr im Vordergrund, auch die Dalitbewegungen haben damit an Dynamik gewonnen. Dalits gibt es ja im gesamten Land, und wenn heute im südlichen Tamil Nadu Dalits etwas passiert, greifen andere Dalits in einem anderen Landesteil dies ebenfalls auf. Die Vernetzung ist besser geworden. Die Bewegungen werden stärker. Jüngere Leute insbesondere sind immer weniger bereit, sich abzufinden mit ihrer Lage und wollen kämpfen.

die furche: Was war Ihre persönliche Motivation, sich in der Dalitbewegung zu engagieren?

Manorama: Ich habe schon früh in der Frauenbewegung vor allem mit Frauen in den Slums gearbeitet, da ging es um die Verbesserung der Lebensbedingungen, um die Lage von Arbeiterinnen im nichtorganisierten Sektor und um Gewalt gegen Frauen. Da wurde mir bald klar, dass Gewalt mehr ist als nur die Geschlechterfrage, als die sie gesehen wurde. Wo immer es Unterdrückung gibt, gibt es eine ganz spezielle Unterdrückung der Frauen. also auch im Kastenkontext.

Indische Frauen werden erst frei sein, wenn sie frei von der kastenbedingten Unterdrückung sind. Das gilt nicht nur für Dalitfrauen, auch Frauen aus den höchsten Kasten sind extremen kastenbedingten Restriktionen unterworfen. Bei den Dalitfrauen aber ist es fast so wie bei den schwarzen Frauen in den USA, die ihre ganz besonderen Anliegen haben, aufgrund von Geschlecht und Klasse und Hautfarbe. Kein Gesetz schützt die Dalitfrauen, die Polizei geht anders vor, je nachdem ob sich um eine Frau aus einer hohen Kaste handelt oder um eine Dalitfrau.

Ich sehe also meine Arbeit eng verbunden mit Fragen der Kaste, Klasse und des Geschlechts. Meine Motivation war also, mich dieser Themen theoretisch wie praktisch anzunehmen, indem ich sie einerseits in die Frauenbewegung getragen habe und mich andererseits aktiv in der Organisation von Dalitfrauen engagiert habe. Denn Dalitfrauen müssen sich selbst organisieren und ihre ganz spezifischen Probleme als Frauen und Angehörige der untersten Kasten ansprechen.

Das Gespräch führte Brigitte Voykowitsch Zur Person: Privilegierte Unberührbare Ruth Manorama ist ein leitendes Mitglied der Kampagne für die Menschenrechte der Dalits (der gebrochenen Menschen), wie sich Indiens Unberührbare selbst nennen. Sie ist selbst Dalit und gehört zu jenen 240 Millionen Menschen in Indien, die unter- und außerhalb des hinduistischen Kastensystems mit seinen vier Haupt- und tausenden Unterkasten stehen. Bei allen Indikatoren schneiden Dalits am schlechtesten ab. Sie müssen die schmutzigsten Arbeiten verrichten, wie Leder gerben oder Latrinen räumen, sie werden Opfer schlimmster Gewalt. Manorama selbst gehört einer jener privilegierten Dalitfamilien an, die den Aufstieg in die städtische Mittelklasse geschafft haben. Sie hatte Zugang zu Bildung und wurde selbst nie Opfer von Gewalt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist Manorama in der indischen Frauenbewegung aktiv, seit 20 Jahren leitet sie in ihrer Heimatstadt Bangalore in Südindien ihre eigene Frauenorganisation "Voice of Women". Sie hat auch an dem von der New Yorker Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" herausgegebenen Bericht mit dem Titel "Gebrochene Menschen" über die Gewalt an Dalits mitgearbeitet.

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