Sensationen des Alltags

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Altkommunist, Deutschböhme, Jude, Weltenbummler: Egon Erwin Kisch, Prototyp des Journalisten, vereinigte viele "Verdachtsmomente" auf sich.

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Altkommunist, Deutschböhme, Jude, Weltenbummler: Egon Erwin Kisch, Prototyp des Journalisten, vereinigte viele "Verdachtsmomente" auf sich.

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Als "rasender Reporter" ging der Prager Jude Egon Erwin Kisch in die Geschichte, die Zeitungsgeschichte im besonderen, ein. Seines fünfzigsten Todestages gedenkt nun das "Jüdische Museum Wien" mit einer umfassenden und informativen Ausstellung.

"Ich schreibe nicht nur für einen kleinen Kreis von Intellektuellen. Ich schreibe für alle. Auch der primitivste Mensch muß es verstehen, auch den Gebildetsten muß es amüsieren und überzeugen", war Kischs Credo. Er gilt als Erfinder der literarischen Reportage, in der er sprachlich präzise und sozial engagiert menschliche Schicksale, historische Hintergründe, ökonomische Prozesse schilderte. Auch sein schriftstellerisches Schaffen ist nicht ohne sein politisches Bewußtsein zu sehen.

1885 geboren, begann er seine journalistische Tätigkeit als Lokalreporter in Prag, war 1913 maßgeblich an der Aufklärung des Spionagefalles Redl beteiligt und nahm am Ersten Weltkrieg teil. 1921 übersiedelte er nach Berlin, bereiste ganz Europa und schilderte in seinen Reportagen das Leben der Obdachlosen von Whitechapel, die Schicksale slowakischer Auswanderer in Le Havre und flog 1921 als früher Passagier von Paris nach Straßburg. Er war fasziniert von der Vielfalt des modernen Lebens und besessen, dem Leser die "Sensation der Alltäglichkeit" zu vermitteln. Große Reportagereisen führten ihn nach Moskau und in den Kaukasus (1926), in die USA (1928), nach Shanghai, Peking und Tokio (1932).

Trotz Beinbruchs Nach dem Berliner Reichstagsbrand 1933 wird er verhaftet und nach Prag abgeschoben, bis 1939 lebt er in Frankreich.

Als er 1934 als Delegierter an einem Antikriegskongreß in Australien teilnehmen soll, wird ihm trotz eines britischen Einreisevisums die Landung verweigert, Kisch springt in einem unbewachten Augenblick von Bord des Schiffes, bricht sich das Bein - und setzt seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus fort.

1938/39 verbringt er - er ist Mitglied der KPD - mehr als ein halbes Jahr bei den Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg und kann sich im Dezember 1939 gerade noch mit Hilfe der "League of American Writers" nach New York retten. 1940 geht er nach Mexiko, wo er im Zentrum des Kampfes der deutschen Emigranten gegen den Hitlerfaschismus und für "Solidarität mit der Sowjetunion und ihrer kulturellen Kraft" steht.

Im März 1946 kehrt der über Sechzigjährige nach Prag zurück, zwei seiner vier Brüder sind im KZ umgekommen. "Kisch mußte feststellen, daß eigentlich niemand Interesse an ihm hatte. Als Altkommunist, Deutschböhme, Jude und Weltenbummler westlichen Zuschnitts verkörperte er alle nur möglichen Verdachtsmomente", wird der Prager Philosoph Eduard Goldstücker später über ihn schreiben. Am 31. März 1948 stirbt er in seiner Heimatstadt an einem Schlaganfall.

Bedingt durch die Öffnung östlicher Archive sind in dieser Schau erstmals Exponate aus dem Prager Nachlaß zu sehen, Notizbücher, Matrikelscheine, Mitgliedsbücher, Originalmanuskripte in seiner verschnörkelten Handschrift, Briefe, seltene Erstausgaben. Fotos zeigen ihn auf seinen zahlreichen Reportagereisen und in seinen unfreiwilligen Exiljahren, sie zeigen einen engagierten Menschen, eine bewegte Zeit.

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