Show Talk must go on

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Reality TV sei "Show Talk", sagt der ORF. Und befragte Mitte Jänner in einer siebenstündigen Talkshow 200 Experten zum vorläufigen Show Down des 75-tägigen Simultan-Spiels. Die Enquete auf dem Küniglberg war seit langem die erste öffentliche Richtungsdebatte im ORF, die in Kreiskyscher Epik stattfand: Sieben Stunden öffentliche Debatte ohne Pause. Genau besehen, die erste seit Herbst 1994, als Gerhard Zeiler als Generalindendant Schübe in Richtung Privatfernsehen einleitete. Doch: So dramatisch wie damals ist nun die Situation keineswegs. Es ging nicht um die Gesellschaftsstruktur des ORF, zu der Experten aus Soziologie, Psychologie, Philosophie, Medien- und Marktforschung gehört wurden, sondern schlicht um: "Reality TV und seine Entwicklung". Und den österreichischen Beitrag zum medialen Mega-Trend: Taxi Orange (TXO).

Im multimedialen Kuratoriumssitzungssaal mit 1A-Blick über die Hügel Wiens war der Plenarwille stark. Wer seit Jahren die Diskussionsbereitschaft bei ORF-Veranstaltungen kennt, staunte, wie groß das Gerangel um das Wander-Mikrophon war. Anmerkungen, wortreiche Eingaben, kühne Repliken, sachliche Expertisen, herzende Danksagungen, viel Lob und nur wenig Tadel. Basisdemokratie pur. Über allem wachte am Podium ein kettenrauchender Generalintendant Gerhard Weis, der - unter anderem - sagte: "Wir wollen aus den Meinungen kein Buch machen, aber sie aufsammeln, um eine Strategie zu entwickeln, wie wir mit dem Phänomen Reality TV umgehen."

Zum Auftakt nannte Weis TXO einen "Notwehrakt". Man wolle nur junges Publikum, das hoffnungslos vom Küniglberg in die Tiefen der Privatsender abdriftet, zurückholen.

TXO kostete den ORF 80 Millionen Schilling und brachte ihm 82 Millionen Schilling an Merchandising-Einnahmen. Hinzu kam ein hochgeschlagener Image- und Werbewert für den ORF in der Größe von 100 Millionen Schilling. Man muss kein Prophet sein, um das unter dem Strich, den der Steuerzahler und dessen Vertreter gerne ziehen, als medialen Erfolg zu werten.

Andere Fakten liegen auch klar: 2.000 Medienberichte erschienen. Keine Überraschung, die Ursachen liegen im Trendthema. Erstaunlicher in der Schlussbilanz: Das Sendungsformat, das der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk im profil kritisch "Eliminationsspiel" nannte, wurde nicht nur von den angepeilten 12- bis 29-jährigen gesehen, sondern auch von Älteren. Das Altersmittel lag bei 39 Jahren. Wahrer Knüller: TXO startet im Februar in der Türkei und im September auf SAT.1. Damit kreierte der ORF erstmals ein eigenproduziertes Format, das, so Weis, "zur Gänze ins Ausland verkauft wird". Der ORF dreht am internationalen TV-Rad mit.

TXO ist Literatur Für Unterhaltungs-Intendantin Kathrin Zechner ist Taxi Orange Beispiel für "dislozierte Kommunikation". Die Wiener Taxi-Kommune bewegte über alle Bundesländer junge Leute zum Mitreden. Der pädagogische Effekt sei vergleichbar mit "Brieffreundschaften unter Jugendlichen" und "endlosen Telefonaten in der Pubertät". Die Website wurde angenommen: 45 Millionen Page Views an 75 Tagen und - für österreichische Verhältnisse hohe - 200.000 User-Einträge. Franz Manola, Chef von ORF-On bestätigt: "TXO ist ein Format der Internet-Generation".

Roger Willemsen, 45-jähriger Bonner Filmproduzent, Talk-Master, Kolumnist und 15-facher Buchautor sieht Reality TV als "Metapher des neuen Jahrtausends". Für ihn ist es ein "urliterarisches Format". Es gleiche der epischen Breite eines Dostojewskijromans: "Bei keinem anderen Format kann man minutenlang jemandem beim Schuhbänderbinden zusehen." Der Zuseher könne Gesellschaftskonflikte betrachten und daraus lernen. Mit Voyeurismus habe das wenig zu tun, außerdem habe dieser auch positive Seiten, indem er "Demarkationslinien" in der Gesellschaft verschiebe. Pures Bildschirmerlebnis als zweiter Bildungsweg: Reality TV fördere liberale Gesinnung und Verständnis für Neues.

Die Container seien auch Laboratorien für "moderne Ethnologie". Wie sich Sprachmuster in der Jugendkultur verschieben, sei unter dem Glassturz in Reinform zu sehen. Sprüche, wie der berüchtigte: "Shakespeare, wo spielt der mit?" von Zlatko Trpovski, dem "Prolo" bei der ersten Staffel von Big Brother in Deutschland, sind nun Populärgut. Freilich: Schöngeistig-distanzierte Sicht auf Reality TV hat immer auch kurze Beine. Der Grundbefund von Willemsen: Nur das Endlosförderband Reality TV kann noch Gemeißeltes aus dem Zitatensteinbruch des Alltags liefern. Fiktionale Filme dagegen bleiben grau. Fazit Willemsen: Das Fernsehen erlebt zum Jahrtausendbeginn ein "Ende der Fiktionen". Der Zuschauer hat einen "Hunger nach Wirklichkeit". Das bestätigt auch Psychotherapeut Stephan Rudas als Lifestyle-Trend: "Es besteht eine Sehnsucht nach Authentizität."

Familie im Halbkreis Die Frage bleibt: Wie wirkt sich Reality TV auf die Familie aus? Für die einen schließt sich der Kreis der Familie zwar nicht, wohl aber gebe es eine "Renaissance des Halbkreises" (Willemsen) - gemeint: die Familie hocke wieder geschlossen vor dem Bildschirm, wie früher bei den großen Straßenfegern. Andere bezweifeln das. Die Wiener Soziologin Eva Flicker, Autorin einer Vergleichs-Studie zwischen Big Brother und Taxi Orange, befindet, das Lebensideal Familie sei durch TV-Events nicht mehr zu retten. TXO könne nur mehr das aufgetretene Vakuum zeigen. Reality TV sei bestenfalls "Familienersatz", wobei bedenklicherweise viele über die Neo-Helden "Max", "Robert" und "Andrea" schon mehr wüssten als über ihre Lebenspartner. Der "Ersatzfamilie" TXO komme nun erhöhte Sorgepflicht zu. Flicker: "Taxi Orange kann zeigen, wie Arbeitsaufteilung unter den Geschlechtern zu funktionieren hätte." Erst Halbe-Halbe im Kutscherhof. Dann Halbe-Halbe zu Hause.

Das scheint einen wunden Punkt in den Bedürfnissen nach Fernsehaufklärung zu treffen. Rudolf Bretschneider, Chef des Marktforschungsinstituts Fessel-GfK bestätigt das. Das Institut erhob, dass unter 1.000 Befragten (bei Mehrfachnennung) 83 Prozent sehen wollen "wie Männer und Frauen gleichberechtigt zusammenleben". 82 Prozent begründen das Zusehen mit dem Wunsch "ein funktionierendes Zusammenleben verschiedener Menschen" zu beobachten.

Die Sendung, "Kristallisationspunkt der Mentalitäten" (so die Beurteilung des Soziologen Reinhold Knoll), habe Potenzial. Und glänzende Quoten: 71 Prozent der Befragten sahen TXO, nur 31 Prozent lehnten es rigoros ab (häufigste Begründung: "Kein Interesse am Privatleben anderer"). Taxi Orange hat eine Bekanntheit von "glatt 100 Prozent" (Bretschneider) und bannte im Schnitt weit über 700.000 Zuseher (an Spitzentagen bis über eine Million). Damit nimmt man es mit jedem Länderspiel auf.

TXO bietet Sozialforschern ein Dorado. Sie finden viele Gründe, weshalb die Sendung funktioniert: Zunehmende "Selbstdarstellungstendenzen im Alltag" - von Karaoke bis Extremsport, so der deutsche Medienforscher Uwe Hasebrink in einer zusammenfassenden Expertise, die von Fessel-GfK präsentiert wurde; die "Sehnsucht nach Geschwisterlichkeit" (der Klagenfurter Philosoph Peter Heintel); die "Schaulust", ob "animal" (neugierig) oder "animalistisch" (voyeuristisch), so Stephan Rudas. Liegt es im Zwitterwesen Mensch, der zwischen "übertakteter Zeit und Entschleunigung" (Kinderpsychiater Max Friedrich) pendelt und daher "untätige Menschen" im Container betrachtet? Sind es die Spiel-Helden, von denen der grüne ORF-Kurator Stefan Schennach lobend meint, sie hätten "Eigenschaften, die die Schwarzeneggers, die Politik und die Bischöfe nicht haben"?

Die TXO-Skeptiker konnten bei der Enquete auf dem Küniglberg die Fans kaum aufwiegen. Aber es gibt sie. Peter Vitouch, Vorstand des Ludwig Boltzmann-Instituts für Medienforschung kritisierte, dass im Reality TV "Beobachtung legitimiert wird" und das Descartsche "Cogito ergo sum" (Ich denke, also bin ich) durch das moderne "Televideor ergo sum" (Ich bin im Fernsehen, also bin ich) ersetzt wird. Max Friedrich wies auf den Begriff des "Mobbing" hin und warnt vor übermäßigem TXO-Genuss: "Dauerkonsum fördert Mobbing-Training".

TV als Gleichung Jedoch: Zur Kernfrage, öffentlich-rechtliches Fernsehen mit oder ohne Programm a la Taxi Orange, urteilen die Wissenschafter salomonisch. Uwe Hasebrink: "Öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss sich stark engagieren". Peter Heintel: "Der ORF soll das machen, aber man soll den Geschehensablauf rekonstruieren". Peter Vitouch: "Man kann Leute auf dem Boulevard aufsammeln, aber die Frage ist, wo man sie absetzt". Dass Taxi Orange, die "bestausgeleuchtete Reality-Show" (Willemsen), Fortsetzung findet, scheint - auch nach Medienberichten der letzten Tage - wahrscheinlich. Im Trend liegt man. Spätestens seit The Real World (USA, 1992), der Urform der Big Brotherisierung, ist der Ball unaufhaltsam am Rollen. Die Impulse kommen mittlerweile aus Holland, Schweden und Großbritannien.

Doch auch im deutschen Sprachraum gab es lange Vorbereitung auf das Heute. In gewisser Weise wiesen schon Ekel Alfred, Diese Drombuschs, Liebe Familie, Lindenstraße oder Gute Zeiten, schlechte Zeiten in die Zukunft, die jetzt passiert. Nun eben mit "Authentizität" und "echten Menschen".

Wie es weitergeht, weiß nicht einmal Gerhard Weis. Am Ende der Marathon-Enquete sprach er: "Ein Fernsehprogramm zu machen ist wie eine Gleichung mit zehn Unbekannten zu lösen." Fernsehen bleibt also schwierig.

Der Autor ist freier Journalist in Wien.

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