Spektakel im Detail

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Die Franzosen jubeln über ihre erste Goldene Palme seit 21 Jahren: "Entre les murs" könnte ein wichtiger Film für das europäische Kino werden.

Sean Penn weiß, was einen Regisseur ausmacht: Denn der Schauspieler, in diesem Jahr Jurypräsident des 61. Filmfestivals in Cannes, ist selbst Filmemacher, dem nichts ferner liegt, als das Kino als Spektakel zu begreifen. Es sind die spröden, politischen und gesellschaftlichen Themen, die Penn interessieren, und davon gab es bei diesem 61. Festival genug.

Viele Kritiker hatten Clint Eastwoods historisches (wenngleich konventionelles) Crime-Drama "The Exchange" auf der Rechnung, doch die Jury vergab die Goldene Palme lieber an einen kleinen sozialkritischen Film aus Frankreich: "Entre les murs" (dt. "Zwischen den Mauern") von Laurent Cantet, der für seine unsentimentalen, kritischen Alltagsbetrachtungen bekannt ist. Nach "L'emploi du temps" (2001) widmet sich Cantet der Jugend, hier stets auch Synonym für die Gesellschaft der Zukunft: Cantet beschreibt dokumentarisch den Verlauf eines Schuljahres an einer Pariser Mittelschule. Im Klassenzimmer prallen unterschiedlichste soziale, kulturelle, religiöse Realitäten aufeinander, doch "Entre les murs" ist kein Film über Teenager, sondern betrachtet auch die Mühen der Lehrer. Insofern verhandelt der Film sein Thema auch als Generationenkonflikt - und zeigt dabei fernab der oberflächlichen Lässigkeit vieler US-Highschool-Geschichten endlich ein wenig bestelltes Betätigungsfeld für das europäische Kino auf: Cantet ist einer der ersten, der sich den realen Lebensumständen der modernen Jugend annimmt, ohne der Verlockung zu verfallen, das Jungsein als ungetrübten Augenblick hinzustellen. Die Franzosen jedenfalls sind zufrieden: Erstmals seit 21 Jahren gewann ein französischer Film die Goldene Palme.

Auch die Italiener frohlocken: Der satirische, vom Informationsgehalt aber allzu komplexe "Il Divo" von Paolo Sorrentino über das Leben des italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti holte den Preis der Jury.

Gutes Italo-Kino ist zurück

Matteo Garrone erhielt für seinen Mafia-Thriller "Gomorra" den Großen Preis des Festivals. Garrone mixt in seinem Film die Geschichten verschiedener Protagonisten zu einem komplexen Bild der Mafia von Neapel; nicht die klischeebeladenen Gangsterbosse stehen hier im Fokus, sondern ihre Handlanger: Kleine Fische, die die Drecksarbeit verrichten, wenn es um Giftmüllentsorgung oder Drogenhandel geht. Garrones Kunststück, das bisher wenigen Mafia-Filmen gelang: "Gomorra" ist viel mehr differenziert als induktiv. Das Räderwerk des organisierten Verbrechens wird auf seine kleinsten Rädchen heruntergebrochen. Garrone zeigt lieber Slums als vertraute Italien-Bilder und beweist damit, dass das zeitgenössische italienische Kino endlich wieder mehr kann als romantisierte Bilder zur wohlklingenden Sprache zu servieren.

Dass die Jury den Regiepreis an den Türken Nuri Bilge Ceylan für das spröde, aber eindringliche Drama "Üc Maymun" ("3 Monkeys") vergab, spricht für ihre Eigenwilligkeit. Glücklicherweise hat aber auch diese ihre Grenzen: Denn Wim Wenders' desaströser Beitrag "Palermo Shooting" mit "Toten Hosen"-Sänger Campino ging leer aus: Ein Sinnsuche-Trip eines von einer Lebenskrise gebeutelten Starfotografen (Campino) von Düsseldorf nach Palermo, bei dem unterwegs der Tod vorbeischaut - in Gestalt von Dennis Hopper. Peinliche Alltagsphilosophien und Campinos linkisches Intonieren der banalen Weisheiten zu Leben und Tod machen den Film zum Ärgernis.

Kurzweiliger, aber nicht weniger fordernd ist Steven Soderberghs viereinhalbstündige (!) Filmbiografie "Che". Benicio del Toro (Preis als bester Darsteller) kämpft sich in der Titelrolle von der Revolution in Kuba bis zu Ches Zeit in Bolivien vor. Der Erzählrhythmus ist bedächtig, dennoch beeindruckt "Che" durch seine genaue Aufarbeitung der Lebensgeschichte Guevaras.

Belgische Präzisionsarbeit

Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne (zweifache Palmen-Gewinner) haben sich Bescheideneres vorgenommen: In "La silence de Lorna" (Drehbuch-Preis) treiben sie mit unglaublicher Präzision für Gesten und Zwischentöne das Schicksal der Albanerin Lorna (Arta Dobroshi) voran, die durch Scheinheirat zur Belgierin wurde. Die Geradlinigkeit der Bilder, die durch ihre Anordnung erst nach und nach die Geschichte freigeben, steht in Kontrast zur Emotion der Protagonistin. So muss Kino sein: Das Spektakuläre verbirgt sich immer im Detail, und dieses Detail zu betonen ist die Aufgabe eines Regisseurs. Die Dardennes haben das schon immer gewusst. Und Sean Penn auch.

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