Verirrt in der Stadt

Werbung
Werbung
Werbung

"Der Tangosänger", der neue Roman von Tomás Eloy Martínez, kartografiert das Leid und die Schönheit in Buenos Aires.

Der New Yorker Bruno Cadogan fliegt nach Buenos Aires, um für seine Dissertation über das Phänomen Tango nicht archiviertes Material, vor allem aber den Sänger Julio Martel kennen zu lernen. Sein eingeschränktes Wissen über die Stadt und ihre Geschichte hat er aus Romanen. Kein Wunder, dass die unvermittelte Realität, sinnliche Dichte, unverhüllte Armut ihn verwirren und faszinieren.

"Nur eine Stadt, die der Schönheit so sehr abgeschworen hat, kann selbst im Unglück noch von so erstaunlicher Schönheit sein."

Städte sind Irrgärten und eine Möglichkeit, sich in ihnen gewinnbringend zu verlieren, ist, die Bücher ihrer Poeten zu lesen. Das alles ergäbe noch keine spannende Geschichte. Aber die Verschachtelung vom Buch im Buch, Lied im Lied ist nur ein Geländer, an dem uns Martínez entlang führt.

Verlorene Unschuld

Denn Bruno verliert die Unschuld des Nichtwissenden in dieser Stadt der toten Künstler, der ermordeten Kinder, der geopferten Regimegegner. In der oberflächlich sicheren Atmosphäre der letzten Jahre wächst das Verdrängen der blutigen Vergangenheit. Der verkrüppelte, chronisch kranke Außenseiter Julio Martel kämpft auf seine Weise dagegen an, konserviert alte Tangotexte, restauriert musikalische Motive und verwendet das Geschenk seiner überwältigenden Stimme als Mittel, um die Zeit festzuhalten.

Unter der sengenden Sonne begegnet der Nordamerikaner Menschen, die etwas Unwirkliches an sich haben, fiktive Vorlagen verschränken sich mit tatsächlich existierenden. Bruno, viel erfassend, aber von wenigem wirklich berührt, wird zum Kartografen von Leid und schmerzhaft berührender Schönheit. Ihm werden nach und nach - er folgt einem unsichtbaren, aber akustischen Faden quer durchs Labyrinth - Aspekte von überquellender Liebe enthüllt, die er krampfhaft festzuhalten versucht, auch wenn er sie, staunend, nicht nachempfinden kann. Buenos Aires wird, neben vielem anderen, zur Bühne für eine sehr persönliche Initiation.

"Bekanntlich gibt es in jeder großen Stadt eine dieser Linien von hoher Dichte, ähnlich den schwarzen Löchern im Weltraum, die das Naturell dessen verändern, der sie überschreitet."

Bruno als Person bleibt seltsam flach, nur in seiner Neugier, seinem unersättlichen Zuhören und Hinschauen und Aufnehmen greifbar, ein Mann, dem man Leidenschaft nicht recht zutraut, wohl aber eine unstillbare Sehnsucht nach Wissen und Verstehenwollen.

Tomás Eloy Martínez, 1934 in Argentinien geboren, machte als Journalist und Essayist auf sich aufmerksam, bevor er nach Morddrohungen unter Isabel Péron das Land verlassen musste. Er gründete in Lateinamerika Zeitschriften, schrieb sein erstes Buch, zersplitterte Avantgardeprosa, errang Weltruhm mit "Santa Evita" und "Der General findet keine Ruhe". Er lehrt und lebt mittlerweile in New Jersey.

Grausamkeit und Größe

Im "Tangosänger" stellt der Autor berührend und in luzider Sprache menschliche Grausamkeit und liebende Größe dar, wie von ungefähr scheinen in anekdotenhaften Sequenzen historisch belegbare Ungeheuerlichkeiten eingestreut, das trotzdem existierende Schöne und Gute strahlt dadurch noch unwiderstehlicher. Er treibt das Bild vom Labyrinth auf die Spitze, in der chronologisch aufgebauten Geschichte wird das Irren durch Straßen, Häuser, aber auch im Sich-nicht-mehr-Zurechtfinden mit Menschen ein alles bestimmendes Motiv. Dennoch liest sich der Roman wunderbar leicht, Beleg für meisterhaftes Erzählen.

Der Tangosänger

Von Tomás Eloy Martínez

Übersetzt von Peter Schwaar

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2005

236 Seiten, geb., e 20,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung