Virtuelle Geschichte

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Ohne Internet ist Geschichtswissenschaft nicht mehr denkbar. Wie seriös sind die Daten im Netz?

Die Eckdaten des Beitrags schienen ernstzunehmend: Der Autor war namentlich genannt und konnte sich als Universitätsprofessor ausweisen, ein Verlag in Wien verlegte das Werk, und die Netzversion erschien auf dem Server der Universität Pennsylvania. Zudem hatte die Deutsche Bibliothek dem Opus ordnungsgemäß eine ISBN-Nummer verliehen. Auch die Qualität schien zu stimmen, und so bezeichnete die Suchmaschine Infoseek (mittlerweile Go.com) den Aufsatz mit dem Titel "Der Schwarze Tod in der Civitas nostre domine regine angelorum" als "besten Netz-Beitrag" zu diesem Thema. Der Haken an der Geschichte: Kein einziges Wort in dem vermeintlich hochwissenschaftlichen Text war wahr. Bürgten die Latinismen auf den ersten Blick für Seriosität, so hätte man wohl nach näherer Betrachtung beim Heurigen-Verlag mit Sitz in "Wien an der Regnitz" Verdacht geschöpft. Auch die Stellung des Autors als "ordentlicher Professor der höheren Pestwissenschaften" hätte für Zweifel gesorgt. Spätestens aber die zweite, unverbesserliche Auflage hätte misstrauisch machen müssen, denn der Text von Stuart Jenks, Historiker am University College in London, war nichts anderes als ein Verlässlichkeitstest für (geschichts)wissenschaftliche Informationen im Internet. Sein Urteil: Man kann sich auf gar nichts verlassen.

Suche nach Seriosität

Wenigstens ein paar Anhaltspunkte für die Suche nach Seriösem liefert sein "Internet-Handbuch Geschichte", das Jenks gemeinsam mit der Dortmunder Kulturwissenschafterin Stephanie Marra herausgegeben hat. Grundsätzlich wird gewarnt: Verlässliche Informationen sind in den meisten Suchmaschinen nicht zu finden. Sie sortieren die gefundenen Dateien bestenfalls grob, können sie aber nicht nach wissenschaftlicher Qualität einordnen. Dagegen sei etwa der 1991 initiierte Linkkatalog "Virtual Library" (www.vlib.org/History.html) imstande, die eingelinkten Netzseiten inhaltlich zusammenzufassen und aus der Perspektive des Fachwissenschafters kritisch zu beurteilen.

Gehasst oder geliebt: Computer und Internet sorgten in der Geschichtswissenschaft für Umwälzungen: So fand die Sektion Ur- und Frühgeschichte Mitte 2000 mit der Portalsite "Archäologie Online" (www.archaeologie-online.de) eine deutlich verbesserte Recherchemöglichkeit. Im Bereich Alte Geschichte erlaubte die Suchmaschine "Argos" (argos.evansville.edu) präziseres Forschen im World Wide Web - und für das Mittelalter die Erlanger Historikerseite (www.ErlangerHistorikerseite.de). Als herausragendes Beispiel einer hilfreichen Datenbank gilt den Mediävisten die "Bibliographie zu österreichischen Handschriften" (www.oeaw.ac.at/ksbm/lit/frame.htm). Hier werden rund 4.600 Literaturzitate mit 60.000 Verweisen auf Handschriften in österreichischen Bibliotheken zusammengebracht. Für Hintergrundwissen zum Thema Hexenverfolgung und andere neuzeitliche Verirrungen sorgt schließlich der "Server Frühe Neuzeit" (www.sfn. uni-muenchen.de).

Besondere Achtsamkeit ist gegenüber Online-Angebote zur Zeitgeschichte geboten. Immerhin zählten revisionistische und rechtsextreme Portale zu den ersten, die das World Wide Web bevölkerten. Brauchbare Dienste erweist den Forschenden das seit 1995 an der Universität Innsbruck betreute "Zeitgeschichte - Informationssystem (ZIS)" (zis.uibk.ac.at), in dem auch Chroniken und Quellensammlungen zu finden sind. Und die Holocaust-Referenz (www.h-ref.de) bietet die eindringlichsten Argumente gegen unverbesserliche Auschwitz-Leugner.

Trotz einer gewissen Anzahl fachlich fundierter Angebote seien jedoch im deutschsprachigen Internet seriöse Angebote zu diesem Abschnitt der Geschichte rar, lautet die ernüchternde Konklusio des Bochumer Historikers Ralf Blank. Selbst hochgelobte antifaschistische Linklisten würden eher Zugangsportalen zu rechtsextremen Angeboten ähneln, da alles kritik- und kommentarlos verlinkt werde, was auch nur entfernt das Thema "gegen Rechts" behandle.

Inmitten des Sichtens der Datenströme sieht sich die Geschichtswissenschaft mit weiteren Herausforderungen konfrontiert: Gedruckt vorliegende Bestände werden zwar mit großem Eifer digitalisiert. Im Vergleich zu Pergamenten ist jedoch die Haltbarkeit von Magnetbändern oder CD-ROMs begrenzt. Zudem sind die Speicherformate softwareabhängig. Daten müssen also durch Umkopieren erhalten werden, obwohl bei jedem dieser Vorgänge unweigerlich ein Teil der Daten verloren geht.

Unklar ist nicht nur der Modus der Aufbewahrung, sondern das Bewahrenswerte selbst: Welche Informationen im Internet sollen archiviert werden? Was soll das virtuelle Chaos überdauern, was nicht? Für die Geschichtswissenschaften hat dieser "Kampf gegen die kollektive Amnesie" jedenfalls schon längst begonnen.

INTERNET-HANDBUCH GESCHICHTE.

Von Stuart Jenks und Stephanie Marra (Hg.). Böhlau Verlag, Köln/Weimar/ Wien 2001 (UTB für Wissenschaft). 308 Seiten, TB, e 19,90/öS 291,-

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